Diskutiert auf Platz 1 der SWR Bestenliste Juni 2024
Claire Keegan kann Männer. Das hat sie in ihren voran gegangenen Büchern bewiesen. Cathal, der Protagonist ihrer neuen, gerade einmal 60 Seiten umfassenden Erzählung „Reichlich spät“, ist allerdings kein Sympathieträger. Kein gewissenhafter Familienvater wie Bill Furlong in „Kleine Dinge wie diese“, kein barmherziger Beschützer wie Mr. Kinsella in „Das dritte Licht“. Cathal ist ein Durchschnittsmann, und das ist das Schlimme daran.
Er ist Angestellter in einer Behörde in Dublin. Der Tag, an dem die Erzählung einsetzt, sollte der Tag sein, an dem Cathal und seine Verlobte Sabine heiraten. Warum es nicht dazu kommt, erklärt der Erinnerungsfilm, der in Cathals Kopf abläuft. Es sind wie immer bei Claire Keegan die sprechenden Details, die ihre Figuren indirekt charakterisieren; unbewusste Gesten, unkontrollierte Reaktionen. Sabine will, das ist die Schlüsselszene der Erzählung, im Supermarkt Kirschen für einen Kuchen kaufen; Cathal erklärt sich bereit, sie zu bezahlen. Mehr als sechs Euro kosten sie. Dieser vermeintlich unverschämte Preis wird noch Wochen später Thema zwischen den beiden sein.
Claire Keegan erweist sich auch in diesem schmalen Werk als eine Meisterin in der Darstellung von Machtstrukturen. Ganz unmerklich dreht sie in „Reichlich spät“ die Verhältnisse um. Im letzten Drittel wird die Erzählung zu einer Reflexion auf vererbte Verhaltensmuster und gesellschaftlich internalisierte Frauenfeindlichkeit.