Buch der Woche

Benjamin Quaderer - Für immer die Alpen

Stand
Autor/in
Alexander Wasner

Benjamin Quaderer erzählt in seinem Debüt einen unglaublichen Fall: Den des Datendiebs Johann Kaiser, der aus kleinsten Verhältnissen im kleinsten Land Europas stammt.

Als er erkennt, dass man mit Lügen großen Erfolg haben kann, erfindet er sich neu, wird Geschäftsmann und Betrüger. Bis er ein Haus verkauft, das ihm nicht gehört und dafür fürchterlich bestraft wird. Seine Rache bringt das Fürstentum ins Wanken.

Ein großer Roman über ein kleines Land

Wie soll man dieses 600-Seiten-Werk nennen? „Postmoderner Fürstentum Liechtenstein-Roman“? Wahrscheinlich ist es der erste größere Roman, der dieses winzige Land überhaupt behandelt.

Ein Künstlerroman, ein Kriminalroman, ein Schelmenroman, besser noch: ein Hochstapler-Roman. Also ein Buch in der Tradition des talentierten Mr. Ripley von Patricia Highsmith oder aber auch von Felix Krull von Thomas Mann.

Ein Hochstaplerroman: unterhaltsam und schnell

Ein Held nimmt sich die Freiheit heraus, ein Leben von der Größe zu führen, die er für angemessen hält. Aber wie Thomas Manns Felix Krull, so ist auch der Quaderersche Johann Kaiser ein Held, dessen heroische Zeit vorbei ist. Er meldet sich aus dem Ruhestand.

„Mein Name ist Johann Kaiser. Wahrscheinlich haben Sie von mir gehört. Ich bin 54 Jahre alt, von Sternzeichen Widder und lebe unter neuer Identität an einem Ort, von dem ich zu meinem eigenen Schutz nicht erzählen darf. Sagen kann ich nur soviel: Es gibt hier Wolken und Bäume, Gras gibt es und Tiere, die das Gras fressen. Fließend Wasser und Strom existieren hier genauso wie die Sonne das tut. Man lebt hier in Häusern. Häusern mit Dächern und Fenstern, mit Balkonen oder Veranden…“

Erstmals hat der Protagonist eine Identität

Man ahnt es jetzt: Der Mann ist zwar geschwätzig, aber sagen will er nichts. Unfassbar, dass er es in diesem inhaltslosen Geblubber doch noch geschafft hat, eine Falschaussage unterzubringen.

Wenn er nämlich sagt, er lebe unter neuer Identität irgendwo – dann muss man sagen: Er hat jetzt zum ersten Mal überhaupt eine. Nämlich die eines Hochstaplers, Trickbetrügers und irgendwie trotzdem Volkshelden.

Er muss schreiben, weil er mit seiner Geschichte Geld verdienen will. Das verrät er hundert Seiten später:

„Vom Schweigen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist leider schwierig.“

Autor Benjamin Quaderer
Autor Benjamin Quaderer

Eine schwierige Kindheit bringt Kaiser auf die schiefe Bahn

Johann Kaiser ist Sohn eines Liechtensteiner Fotografen und einer Spanierin. Eine prekäre Existenz. Seine Schwestern versuchen ihn früh mit einem Kissen zu ersticken und sehr viel besser wird dieses Leben anfangs nicht mehr.

Er kommt in ein Kinderheim und wird zum persönlichen Schützling der Fürstin Gina. Dann schmuggelt er sich unter falschem Namen in ein Elite-Internat ein. Er wird enttarnt. Trotzdem wird aus ihm ein wohl erfolgreicher Banker.

Als er ein Haus verkauft, das ihm nicht gehört, zieht er sich den Zorn der Betrogenen zu, sie entführen und foltern ihn.

Seine Rache richtet einen erträglichen Wirtschaftszweig Liechtensteins zugrunde

Seine Rache, als der Staat seine Peiniger nicht festnehmen will, ist erheblich: Er liefert den deutschen Steuerbehörden eine Sammlung in Liechtenstein operierender Steuersünder und beendet damit einen der einträglichsten Wirtschaftszweige des kleinen Fürstentums, während der Verrat ihm selbst ein kleines Vermögen einbringt.

Johann Kaiser ist ein Lügner, ein Falschspieler, ein extrem unzuverlässiger Held der Gegenwartsliteratur, zuverlässig alleine in seiner Falschheit. Er ist geradezu ein Künstler der Wahrheitsmanipulation.

Johann Kaiser stilisiert sich selbst zum Helden

Aber wie sollte er auch nicht? Johann Kaiser erzählt um sein Leben. Er tut das nicht wie Scheherazade. Die muss bekanntlich ihren Sultan bei Laune halten, damit er sie nicht ermordet.

Johann Kaiser aber erzählt eher um sein Leben wie eine der Figuren im Theaterstück „Sechs Personen suchen einen Autor“ von Luigi Pirandello: Ein Held, der nicht erzählt wird, ist keiner.

„Wo der Text aufhört, in dem ich von meinem Leben erzähle, endet dieses Leben.“

Johann Kaiser gibt es wirklich

Allerdings gelingt es Quaderer, noch einen Twist mehr einzubringen: Tatsächlich hat dieser Held ein sehr reales Vorbild in der Wirklichkeit. Am Ende des Buchs steht eine etwas komplizierte Passage, die mit den Worten beginnt:

Dieses Buch ist ein Roman. Als literarisches Werk schafft es eine ästhetisch neue, künstlerisch-überhöhte Wirklichkeit, indem es zwar in einzelnen Passagen an reale Geschehen anknüpft, aber stets Anklänge an tatsächliche Vorkommnisse mit künstlerisch gestalteten, fiktiven Schilderungen vermengt.

Es gibt Johann Kaiser wirklich. Als Heinrich Kieber hat er fast alles erlebt, von dem der Roman spricht: Die Namenwechsel, die Kindheit, die Banklehre, die Betrügereien – alles wahr. Man kann es im Internet nachlesen und in Filmen nachschauen.

Quaderer greift tief in die Trickkiste der postmodernen Erzählung

Heinrich Kieber hat damals die Liechtensteiner Daten an die deutschen Steuerbehörden vertickt – das bekannteste Bild dazu aus den Fernsehnachrichten ist das von Klaus Zumwinkel, dem Postchef, dessen Privatvilla durchsucht wurde.

Alles wahr und taucht auch so im Buch auf. Die Form allerdings ist so literarisch wie sie nur sein kann. Benjamin Quaderer zieht alle Register des postmodernen Erzählens:

Multiperspektivisch, manchmal täuschen geschwärzte Passagen vor, das Persönlichkeitsrecht von Romanfiguren zu schützen, dann wieder sind hundert Seiten zweifarbig gedruckt – links erzählt ein Ermittler, wie er die Fahndung erlebt, während rechts der Held Heldentaten berichtet.

Einmal laufen die Fußnoten aus dem Ruder und fangen an, eine Geschichte aus der Zeit des Weltreisenden James Cook zu erzählen, auch der Roman erfindet sich wie sein Protagonist alle paar Seiten neu.

Der Roman erfindet sich alle paar Seiten neu

Er ist, könnte man sagen, der zweite Held des Buchs. Und das ist keine theoretisch komplexe Tat, keine Feinschmeckerei für Literaturwissenschaftler, das ist äußerst unterhaltsam und abwechslungsreich. Ein großer Spaß, wenn man so will, der aus dem Inneren der Handlung kommt.

Ein Debüt-Roman von erstaunlicher Reife

Der Roman verrät nicht, was er ist, wie der Held nicht verrät, was er eigentlich vom Leben erwartet, wie das Geld nicht verrät, woher es kommt – und was es soll außer sich vermehren?

Und wie vom winzigen Zwergstaat mit seinen 40.000 Einwohnern keiner weiß, wofür er steht, außer dafür, dass ein Fürst ein Land hat zum Herrschen – alles unbestimmte, definitionsbedürftige Größen. Geld, Macht, Kunst, alles Hochstapeleien. Die Welt ist eine Erzählung.

Benjamin Quaderers Debüt ist ein erstaunlich reifes Werk. Kein Wunder, dass die Verlage sich um das Werk des 1986 geborenen Autors gerissen haben.

Jetzt ist genau die richtige Zeit für reife Debüts mit Überlänge. Lesen Sie. Lesen Sie dieses Buch. Es hat Risiken und Nebenwirkungen, bei Büchern ist das was Gutes.

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