Buchkritik

Aurora Venturini – Wir, die Familie Caserta

Stand
Autor/in
Eberhard Falcke

Chela liest Rilke und Rimbaud, doch sie weigert sich, mit Messer und Gabel zu essen. Von ihrer Familie wird das Mädchen, das sich am liebsten auf dem Dachboden verschanzt, als „Monster“ bezeichnet. Und als sie später in die Welt hinaus zieht, um sich zu bilden, heißt das nicht, dass sie sich auch zähmen lässt.

Alles beginnt auf dem schmutzigen Dachboden eines Landsitzes in der argentinischen Pampa. Dort verbringt Chela die meiste Zeit ihrer Kindheit in Gesellschaft einer kleinen Eule und einer exquisiten Sammlung moderner Literatur, die sie mit frühreifer Neugier verschlingt.

Wenn sie dagegen von den Eltern an den Tisch des Hauses befohlen wird, benimmt sie sich gründlich daneben. Anstatt mit Messer und Gabel zu speisen, stopft sie sich das Essen mit bloßen Händen in den Mund und provoziert ihre gesittete Familie zu dem Urteil: „Chela ist ein Tier“.

Als Schriftstellerin über Jahrzehnte nahezu unbekannt

Dieses Mädchen ist ein ganz besonderer Fall. Dasselbe gilt für den Roman „Wir, die Familie Caserta“ und seine Autorin Aurora Venturini. Studiert in den Fächern Philosophie, Pädagogik und Psychologie  schrieb Venturini ihr Leben lang Poesie, Erzähltexte und Essays.

Doch obwohl sie 1948 von Jorge Luis Borges einen Lyrikpreis entgegennehmen konnte, blieb sie als Schriftstellerin praktisch unbekannt. Als ihr Roman „Wir, die Familie Caserta“ 1992 erstmals gedruckt wurde, hatte er, wie die Übersetzerin Johanna Schwering im Nachwort erklärt, schon eine mehr als zwanzigjährige Odyssee der wechselnden Fassungen und gelegentlichen Würdigungen hinter sich.

Das Merkwürdigste an all dem ist aber zweifellos die Romanheldin Chela, die vieles gemein hat mit der Protagonistin des Romans „Die Cousinen“, mit dem Aurora Venturini 2007 im Alter von sechsundachtzig Jahren schlagartig berühmt wurde.

Doch obwohl es sich bei beiden Romanen um Alterswerke handelt, kann von Abgeklärtheit keine Rede sein. Chelas Geschichte wird für die ersten drei Jahrzehnte ihres Lebensweges, zwischen den Zwanziger Jahren und 1955 retrospektiv nacherzählt, fast durchweg mit ihrer eigenen Stimme, und das bedeutet: in einem aufrührerischen Ton der jugendlichen Revolte, des Eigensinns, der ungenierten, mal frechen, mal selbstbewussten, zuweilen obszönen Offenherzigkeit.

Ein gegen den Strich gebürsteter Bildungsroman

„Wir, die Familie Caserta“ ist ein gegen den Strich gebürsteter Bildungsroman. Er beschreibt eine Entwicklung, die von Verwilderung, Regelverstößen und antibürgerlicher Verachtung angetrieben wird, trotzdem aber in Hinblick auf die Qualifikationen in Schule und Studium sehr erfolgreich verläuft.

Chela gewinnt, noch minderjährig, sogar einen Literaturpreis. Sie ist hochbegabt und allen anderen um Jahre voraus. Vor allem aber sind die Lehrmeister ihrer Widerspenstigkeit keine Geringeren als die Poètes maudits, die verrufenen Dichter der französischen Bohème, von denen sie besonders den ebenfalls frühreif hochbegabten Arthur Rimbaud häufig zitiert und zu ihrem Leitbild macht.

Zu Chelas Bildungsstationen gehören Buenos Aires, wo sie sich manisch in eine erste Liebe stürzt, Chile, wo sie Pablo Neruda begegnet, Paris, wo sie ihr Studium fortsetzt, und Sizilien, wo sie bei einer entfernten Verwandten nach der Vorgeschichte ihrer Familie und den Wurzeln ihrer aufrührerischen Weiblichkeit sucht.

Sie ist nicht nur ein ungewöhnlicher, extremistischer Charakter, sondern ihr Tun und Lassen ist auch unverkennbar imprägniert von literarischen Vorbildern und einer Vielzahl von kulturhistorischen Referenzen.

Elemente des magischen Realismus

Wenn sich Chela bei ihren kindlichen Streifzügen plötzlich auf einer Brücke wiederfindet, die „das Magische vom Alltäglichen trennt“, dann wird daran erinnert, dass hier auch Elemente des Magischen Realismus hineinspielen.

Kurzum: Aurora Venturinis Roman bildet eine wilde, mal groteske, mal bestrickende Synthese aus persönlichen Obsessionen und literarischen Verweisen. Die Lektüre wirkt ebenso verstörend wie elektrisierend und auf jeder Seite erneuert sich der Eindruck: diese spät zu Ruhm gekommene Autorin ist eine ziemlich einmalige Erscheinung und eine wahrhaft überraschende Entdeckung.

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