Mit dem Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ legt der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig eine so bittere wie berührende Überlebensgeschichte vor, die von Ausgrenzung und Euthanasie, aber auch Möglichkeitsräumen handelt, in denen willkürliche Grenzziehungen nicht gelten.
Der Obergefreite Anton Halbsleben aus Hohenems und die Krankenschwester Gerd Hörvold aus Kirkenes
Die tragische Geschichte der titelgebenden Mutter begann in der nordnorwegischen Kleinstadt Kirkenes. Die Nazideutschen, die Norwegen besetzt hielten, verlegten ab Juni 1942 rund 30.000 Soldaten in den Ort unweit der russischen Grenze, in dem nicht mehr als 5000 Einheimische wohnten.
In Kirkenes wurden nicht nur Truppen aus Deutschland, sondern auch aus Österreich stationiert, und so kam Obergefreiter Anton Halbsleben aus dem beschaulichen Vorarlberger Städtchen Hohenems in den hohen Norden. Nachdem er sich in der umkämpften Region verletzt hatte, wurde er von einer Krankenschwester namens Gerd Hörvold betreut. Die beiden verliebten sich, die Frau wurde schwanger.
Fast 200 Kinder von deutschen Soldaten wurden während der Besatzung in Kirkenes geboren
Kein Einzelschicksal, wie man in Alois Hotschnigs Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ erfährt. Die Lebenswelten der Norweger und ihrer Besatzer waren erstaunlich verflochten, Freund- und Feindschaften nur schwer auseinanderzuhalten. Fast 200 Kinder von deutschen Soldaten wurden während der Besatzung in Kirkenes geboren.
Antons Geliebte aber galt bei einem Teil ihrer Familie fortan als „Nazi-Hure“. Sie konnte nicht länger in Norwegen bleiben, und so kommt der SS-Verein „Lebensborn“ ins Spiel, der „arische“ Kinder heim ins Reich holte. Gerd Hörvolds Sohn, der in Hotschnigs Roman seine Lebensgeschichte erzählt, durfte nach sogenannter „rassenhygienischer Untersuchung“ der Mutter in der Heimat des Vaters zur Welt kommen. Alles war genau geplant.
„Der Lebensborn hat sie heruntergeholt. Dieses Papier, das ich gefunden habe durch einen Zufall, darin ist ganze Fahrt aufgezeichnet. (…) Oslo, Kopenhagen, Berlin, München, Hohenems. Die Stationen, die Abfahrt und Ankunft der Züge. Aber das hat dann alles nicht mehr gestimmt, in Berlin ist etwas passiert, sie wurde verschüttet, so hat sie es gesagt.“
Aus: Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter
Schließlich kam die verletzte und traumatisierte Gerd am Bodensee an, was aber dann geschah, ist ein Drama, das für den Erzähler lange Zeit im Dunkeln bleibt. Aus Gerd wurde Gerda, weil der norwegische Vorname in Österreich kein weiblicher ist. Aber das sind nur Oberflächlichkeiten.
Anton trennt sich von seiner Frau und verleugnet seinen Sohn
Denn auch wenn Antons Eltern die Braut des Sohnes zunächst willkommen hießen, gab es schon bald Verwerfungen: Die Großmutter wollte offenbar der österreichisch-norwegischen Verbindung nicht zustimmen. Vielleicht weil Gerda evangelisch getauft wurde. Die „Lutherischen“ waren im erzkatholischen Hohenems genauso verhasst wie die Juden. Was auch immer den Ausschlag gab, Anton trennte sich von der einst umworbenen und nun an einer Nervenkrankheit leidenden Frau – den gemeinsamen Sohn Heinz verleugnet er.
„Mein Vater hat ja behauptet, ich wäre nicht von ihm, sondern von einem Russen, der ertrunken ist. Mit der Mutter konnte ich nicht über ihn reden, wann immer ich nach ihm fragte, kam wieder ein Anfall, und so habe ich nicht mehr gefragt.“
Aus: Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter
Immer wieder kommt der Erzähler auf diese Lügen zurück, wiederholt die Ungeheuerlichkeiten, variiert sie, ergänzt die Gedanken mit neuen Erinnerungsfetzen. So entsteht aus der scheinbaren Mündlichkeit eine soghafte Prosa, die mit immer neuen Wendepunkten überrascht: Die psychischen Krisen der Mutter werden heftiger, sie leidet unter Epilepsie. Was nun doppelt gefährlich ist für Gerda. Denn ein fanatischer Arzt, der sich in den Dienst der Euthanasie gestellt hat, sucht die Ortschaften nach angeblich Irren ab, die dann deportiert werden sollen.
Der Sohn Heinz versucht seine Biografie zusammenzusetzen
Gerda ist eine schöne Frau, sie zieht die Blicke auf sich. Auch deshalb wird sie, die man schon in ihrer Heimat verunglimpft hatte, nun von den neuen Nachbarn „Norweger-Hure“ genannt. Sie wird ihren Sohn in Sicherheit bringen, in einem Lebensborn-Heim oder bei Bauern, so genau wird das Heinz nie erfahren. Irgendwann taucht die Mutter wieder auf, sich selbst und den Sohn fragend, ob er denn jener Bub gewesen sei, den sie zur Welt gebracht habe.
Es ist erschütternd und beeindruckend zugleich, den schlingernden Suchbewegungen des Erzählers durch seine Biografie zu folgen. Schon der erste Satz des Romans ist ein bizarr-schönes Kunstwerk, weil in dieser Sprache, die einem Stolpern gleicht, eine ganz andere Grammatik zu gelten scheint und damit schon zu Beginn das Drama des heimatlosen Kindes literarisch markiert ist.
„Bis ich mit sechzig Jahren, erst mit sechzig meinen richtigen Vater kennengelernt habe, diesen Anton Halbsleben in Hohenems, durch einen Theaterportier, der auch aus Hohenems war.“
Aus: Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter
Die Mutter heiratet noch einmal, der Stiefvater wird zum Peiniger des Jungen
Wie im Laufe der Lektüre deutlich wird, hat Heinz eine erstaunliche Theaterkarriere hingelegt. Bühnenwerke wie „Andorra“ oder „Peer Gynt“ bilden den literarischen Echoraum dieses Prosawerks. Immerhin half die Schauspielerei schon in Kindertagen, den Alltag besser zu ertragen.
So stellte Heinz die Anfälle seiner Mutter nach, um der Angst „habhaft zu werden“. Später wird er in seinen Rollen immer wieder das eigene Leben durchspielen, das von weiteren verstörenden Erlebnissen geprägt wird: Die Mutter heiratet noch einmal, und der übergriffige Stiefvater, der im Keller Tiere schlachtet und sich in Bluträuschen ergeht, wird nachts den wehrlosen Jungen heimsuchen, der als Leser des „Dracula“-Romans auch den Peiniger für einen blutrünstigen Vampir hält.
„Meiner Mutter konnte ich nicht gut sagen, mit wem ich gerade beisammen war, wenn sie mich aus einer transsilvanischen Umarmung rüttelte, und auch nicht fragen, warum sie mich immer ansah, als ahnte sie es und als wüsste sie alles von Anfang an.“
Aus: Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter
Durch kleinste Veränderungen und Verschiebungen öffnet diese biographische Prosa einen literarischen Raum
Wie war all das Unheil möglich? Die Mutter hat wohl bis zuletzt an die Liebe zu Anton geglaubt und den Silberfuchsschal, den ihr der Verlobte einst schenkte, gehütet wie einen Schatz. Zärtliche Briefe Antons tauchen auf, und man fragt sich, was dieses Paar eigentlich auseinandergetrieben hat. Lag es nur an der Großmutter oder war doch die SS schuld, die von einem Kommunisten in Gerdas Verwandtschaft erfuhr?
Am Schluss dieses bestürzenden Mutterromans bedankt sich der Autor bei dem Schauspieler Heinz Fitz, der es ihm „erlaubt“ habe, „entlang seiner Lebens-Geschichte diesen Roman frei zu entwickeln.“ Und wieder ist es ein einziger Buchstabe, der den Unterschied macht: Die Romanfigur heißt mit Nachnamen Fritz und nicht Fitz, und tatsächlich gehört es zur großen Kunst dieser biographischen Prosa, durch kleinste Veränderungen und Verschiebungen einen literarischen Raum zu öffnen.
„(…) ich fantasiere, ich muss fantasieren, aber es ist möglich, sonst wäre es auch kein Roman.“
Aus: Alois Hotschnig: Der Silberfuchs meiner Mutter
Dieses Buch verschränkt erstaunlich viele Themen und literarische Sujets, im Grunde aber geht es immer um jenen Möglichkeitsraum, in dem geographische und künstlerische Grenzen, Sprachbarrieren und menschenfeindliche Ideologien genauso wie familiärer Hass und Krankheiten zumindest zeitweise überwunden werden.
Der Erzähler hat, statt den Hass weiterzutragen, der geheimnisvollen Mutter längst verziehen
Wenn Gerda in ihren letzten Tagen die Kinder von türkischen Migranten betreut und so das Glück einer geliebten Pflege-Oma erfährt, kann sie vielleicht ihre seelische Wunde heilen, dem Erstgeborenen keine sorgenfreie Kindheit geboten zu haben. So jedenfalls sieht es der Erzähler, der, statt den Hass weiterzutragen, der geheimnisvollen Mutter längst verziehen hat. Das ist dann fast zu schön, um wahr zu sein. Aber die eine Wahrheit gibt es in diesem so berührenden wie kunstvollen, und zwar auch bühnenkunstvollen Roman ohnehin nicht.