Vor dem Gericht in Avignon beginnen die Plädoyers zum weltweit beachteten Pélicot-Prozess. Über Jahre wurde Gisèle Pélicot von ihrem Ex-Mann unter Drogen gesetzt und im bewusstlosen Zustand von ihm und mindestens fünfzig anderen Männern vergewaltigt. Nun geht der Prozess in die letzte, entscheidende Runde.
Strukturelles Schweigen über sexualisierte Gewalt muss gebrochen werden
Der Pélicot-Vergewaltigungsprozess könnte helfen, das strukturelle, gesellschaftliche Schweigen über sexualisierte Gewalt in Familien zu brechen. Das Thema sei durch den Prozess eindeutig sichtbarer geworden, sagt die Feministin und Autorin Emilia Roig in SWR Kultur. „Wir sind in einem Zeitgeist, wo diese Gewalt weniger angenommen wird“, so Roig.
Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt nicht als individuelles Problem behandeln
Dabei würde sie Gisèle Pelicot, die in betäubtem Zustand über Jahre von mehr als fünfzig Männern vergewaltigt wurde, nicht als Heldin bezeichnen, sagt Roig. Aber in der Tat sei es sehr mutig, in einer Gesellschaft, die sexuelle Gewalt und Vergewaltigung verharmlose und den Opfern mit Scham begegne, derart in die Öffentlichkeit zu gehen.
Auch andere Frauen könnten sich, so Roig, durch Gisèle Pélicot ermutigt fühlen, aus dem Schweigen auszubrechen. „Der Prozess könnte die Wirkung haben, dass mehr Frauen über ihre Geschichte sprechen“. Vor allem in den Familien gäbe es noch immer ein ausgeprägtes „strukturelles Schweigen“. Dabei dürften Fälle von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungen nicht mehr als individuelles Problem behandelt werden, forderte die Feministin.
Nicht-gewalttätige Männer sollten aufstehen und protestieren
Emilia Roig fordert zudem nicht gewalttätige Männer auf, sich solidarisch mit Frauen zu zeigen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind: „Wir wollen eine Gesellschaft, wo Männer, die nicht gewalttätig sind, aufstehen und diese Gewalt gegen Frauen ablehnen.“
Frauen und Freiheit
Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. "Frauen, Leben, Freiheit": Schreibt der Iran gerade feministische Weltgeschichte?
Eine junge Frau ohne Kopftuch, die auf dem Dach eines Autos steht und „Tod dem Diktator“ ruft. Zwei Frauen, die ohne Kopftuch frühstücken gehen. Frauen, die gegen die allgegenwärtige Sittenpolizei protestieren. Noch vor kurzer Zeit wäre all das im Iran undenkbar gewesen.
Seit etwa zwei Wochen ereignen sich derartige Szenen in der Islamischen Republik immer wieder. Auslöser der Proteste war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die von der Sittenpolizei festgenommen wurde und später im Krankhaus starb. Die daraus entstandenen Proteste berühren einen Kernbestandteil der Islamischen Republik: die Pflicht für Frauen, ein Kopftuch zu tragen.
Schreiben die Frauen im Iran gerade feministische Weltgeschichte? „Ja“, sagt die Journalistin Natalie Amiri im SWR2 Podcast „Was geht - was bleibt“. „Denn auf den Straßen stehen Frauen, sie reißen sich das Kopftuch vom Leib, unter dem Beitrag von Männern und Frauen, sie verbrennen ihre Kopftücher, sie widersetzen sich der Sittenpolizei, die sie mehr als 40 Jahre lang diskriminiert hat, beleidigt, beschimpft, verhaftet und in Mini-Busse gezerrt und sie fertig gemacht hat. Die Frauen, die jetzt sagen: Wir machen nicht mehr mit.
Aber – so Amiri – das Regime schlage hart zurück. Die Frauen im Iran litten seit mehr als 43 Jahren, „ich habe nie so willensstarke Frauen wie die im Iran gesehen“, sagt Natalie Amiri. Feminist*innen auf der ganzen Welt sollten sich noch weitaus mehr mit den Frauen im Iran solidarisieren, ein Kopftuchverbot zum Beispiel in Deutschland lehnt Amiri jedoch ab: „Wenn wir hier in der Demokratie, in Freiheit Frauen verbieten Kopftücher zu tragen, wären wir nicht viel besser als die Islamische Republik.“
Die Politologin und Aktivistin Emilia Roig sieht die iranischen Proteste im Kontext eines weltweiten Feminismus: „Der Protest zeigt, wie tödlich das Patriarchat im Iran ist. “Auch in Deutschland gebe es Gewalt gegen Frauen, so Roig: „Alle drei Tage wird hier eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.“ Man müsse das Patriarchat „jeden Tag verlernen“, „wir müssen die unterlegene Position der Frauen verlernen und auch die binäre Geschlechtsordnung.“
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Host: Philine Sauvageot
Redaktion: Philine Sauvageot und Daniel Stender
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SWR2 lesenswert Kritik Emilia Roig – Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe
Viele feministische Debatten in Politik und Medien drehen sich derzeit um die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit, eingeschränkte Karrierechancen oder Lohnunterschiede. Die Gründerin des Center for Intersecitonal Justice, Emilia Roig, meint: Eine der Hauptursachen solcher Geschlechterungerechtigkeiten ist die Art und Weise, wie Liebesbeziehungen organisiert sind – zum Beispiel in der Ehe. In „Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe" fordert sie dazu auf, die tradierten Vorstellungen von Geschlecht, Sexualität und Liebe völlig neu zu denken, um patriarchale Strukturen zu überwinden.
Ullstein Verlag, 384 Seiten, 23 Euro
ISBN 978-3-55020-228-5