In Haifa gibt es den überaus ungewöhnlichen Schönheitswettbewerb „Miss Holocaust Survivor“: Alte Damen zwischen Ende 70 und Mitte 90 präsentieren sich selbst und ihre Lebensgeschichte als Überlebende der Shoa. Beutet man die Frauen damit ein weiteres Mal aus oder schenkt man ihnen einen beglückenden Moment im Rampenlicht?
Schönheitswettbewerb unter Überlebenden der Shoa
Zu den Klängen von Gloria Gaynor laufen die zwölf alten Damen über den Laufsteg: manche tänzeln geradezu durchs Scheinwerferlicht, bei anderen hat man Angst, dass sie gleich stürzen.
Mehrere Tage lang haben die Seniorinnen für ihren Auftritt beim Schönheitswettbewerb „Miss Holocaust Survivor“ geprobt und daran gearbeitet, wie man sich vor Publikum präsentiert.
„Wie kann man so etwas erlebt haben?“
Die Frauen tragen elegante Kleider. Viele scheinen den Moment zu genießen. Und doch beschleicht einen beim Zuschauen ein ungutes Gefühl: Teil des Wettbewerbs der Holocaust-Überlebenden ist, dass die Teilnehmerinnen der Jury ihre Geschichte erzählen.
Es sind traumatische Erinnerungen an die Todesangst in Verstecken oder die Qualen des Konzentrationslagers. So wie bei der 93-jährigen Tova. Sie war als Mädchen in drei KZs gefangen. Ihrer Familie hat sie davon kaum etwas erzählt, nicht vom Hunger, nicht von den Schlägen und auch nicht, dass ihr ohne Betäubung 14 Zähne gezogen wurden.
„Die Erinnerungen an das, was passiert ist, richten bei mir großen Schaden an gesundheitlich“, erklärt Tova im Film. „Wie kann man so etwas erlebt haben? Schwer zu beschreiben, also habe ich nichts erzählt. Ich konnte die Worte einfach nicht aus mir rausbekommen.“
Schönheitswettbewerb als Trauma-Therapie
Erfunden hat die Veranstaltung „Miss Holocaust Survivor“ eine Trauma-Therapeutin. Durchgeführt wird sie von einer evangelikalen Stiftung, die in Haifa ein Heim für Holocaust-Überlebende betreibt. Einige der Teilnehmerinnen wohnen dort.
Kritiker werfen dem Wettbewerb vor, er verletze das Andenken an die ermordeten Juden und stelle die Frauen aus PR-Gründen aus. Die Organisatoren halten dagegen, man wolle den Frauen, denen der Nationalsozialismus ihre Kindheit gestohlen habe, einen Moment der Freude, Weiblichkeit und Aufmerksamkeit schenken.
Eine Jurorin erklärt: „Es geht nicht um 60-90-60-Maße, sondern um die Persönlichkeit. Ist sie eine angenehme Person oder eine Person, die verbittert ist oder eine Person, die nicht kommunizieren kann? Was für uns Jurorinnen zählt, ist, was für ein Mensch du geworden bist nach dem Holocaust.“
Regisseur Radek Wegrzyn konzentriert sich auf die Schicksale der Kandidatinnen
Ob es die Sache weniger fragwürdig macht, wenn Außenstehende traumatisierte Frauen für ihre innere statt für ihre äußere Schönheit bewerten, sei dahingestellt. Und Regisseur Radek Wegrzyn geht der Frage auch nicht weiter nach.
Er konzentriert sich mehr auf die Lebensgeschichte der Frauen als auf den Wettbewerb, dessen genaue Umstände denn auch etwas vage bleiben. Im Zentrum von „Miss Holocaust Survivor“ steht neben der toughen Tova, die auch mit 93 Jahren noch jeden Tag ins Fitnessstudio geht, die Künstlerin Rita.
Sie verarbeitet ihre Ängste in Bildern und in einem Tagebuch, aus dem Auszüge gelesen werden. Der Film erkundet, wie die Frauen mit ihren Erinnerungen umgehen und wie sie ihre Sicht aufs Leben geprägt haben.
Eine Feier des Überlebens
Man muss den Wettbewerb nicht gut finden, um festzustellen, dass er den Frauen offenkundig Freude bringt. Eine Feier des Überlebens jenseits staatstragender Gedenkveranstaltungen.
Und angesichts des Terrorangriffs vom 7.Oktober eine Erinnerung daran, dass das Überleben für Jüdinnen auch fast 80 Jahre nach dem Holocaust keine Selbstverständlichkeit ist.
„Miss Holocaust Survivor“, ab 9. November 2023 im Kino
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Die Nationalsozialisten verfolgten vor und während des Zweiten Weltkrieges Jüdinnen und Juden, Sinti*ze und Rom*nja, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen Zeugen Jehovahs und politische Gegner*innen. Ihre Opfer wurden erniedrigt, zur Zwangsarbeit gezwungen und ermordet. All ihnen wird am 27. Januar gedacht: seit 1996 in Deutschland und seit 2005 weltweit.
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Es diskutieren:
Esther Dischereit, deutsch-jüdische Schriftstellerin und Beobachterin des Untersuchungsausschusses zu den NSU-Verbrechen, Berlin
Sibylle Thelen, Leiterin der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und der Gedenkstättenarbeit, Stuttgart
Prof. Dr. Thomas Thiemeyer, Direktor des Ludwig-Uhland-Instituts für empirische Kulturwissenschaft, Tübingen
Gesprächsleitung: Silke Arning