Wenn Journalisten ein Thema recherchieren und versuchen, Dingen auf den Grund zu gehen, brauchen sie Menschen, die bereit sind, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Doch das ist in letzter Zeit schwieriger geworden.
Ich habe nochmals mit meiner Frau gesprochen und wir haben uns dazu entschlossen, dass ich leider doch nicht mitmache. Politik ist ein heißes Thema, bei dem man sich schnell Feinde macht und da haben wir Angst um unseren Sohn.
Bei dem Interview sollte es darum gehen, wie die gestiegenen Preise eine mittelständische Familie belasten und welche Unterstützung es für diese Gesellschaftsgruppe geben müsste. Eigentlich kein heißes Thema, könnte man denken und trotzdem kam das Interview nicht zustande. Das ist kein Einzelfall.
Es ist in der heutigen Zeit leider nicht möglich, in der Öffentlichkeit eine Meinung zu äußern. Gerne hätte ich mit Stolz unser Energiesparhaus mit unserer Wärmepumpe, der Lüftungsanlage und der neuen Photovoltaikanlage gezeigt.
Auch wenn es um E-Mobilität oder erneuerbare Energien geht, schrecken mittlerweile Menschen davor zurück, sich öffentlich zu äußern. Und auch wenn es um die Situation an Schulen geht, trauen sich Betroffene nicht offen zu sprechen.
Vielleicht finden Sie jemand an höherer Stelle, der zu dem Thema mit Ihnen reden möchte und dabei nicht Kopf und Kragen riskiert. Es tut mir leid, aber für mich persönlich möchte ich Abstand nehmen von der Idee eines Interviews. Ihnen alles Gute für ihre bewundernswerte Arbeit!
Hass im Netz schreckt viele ab
Während es in den Sozialen Medien einerseits kaum mehr Grenzen zu geben scheint, extreme Meinungen zu äußern und sogar zu Hass aufzurufen, trauen sich andererseits offenbar weniger Menschen, über ihre persönlichen Erfahrungen zu sprechen und ihre Haltung zu vertreten. Das Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz hat in einer repräsentativen Studie analysiert, dass fast jede zweite Person schon einmal online beleidigt wurde. Ein Viertel der Befragten wurde sogar schon mit körperlicher Gewalt konfrontiert.
"Es gibt ein paar Indizien dafür, dass das gesellschaftliche Klima rauer geworden ist, und dass das auch dazu führt, dass Personen stärker überlegen, bevor sie sich gerade zu politischen Themen äußern", sagt Professor Stephan Winter, Medienpsychologe an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) im Interview mit SWR Aktuell.
Die Angst vor der Ausgrenzung
Dass Menschen sich überlegen, ob sie ihre eigene Meinung sagen, auf die Gefahr hin negatives Feedback oder sogar Sanktionen zu erleben, sei ganz normal, sagt Winter. In der Psychologie ist von der Theorie der Schweigespirale die Rede. Das bedeutet, die Bereitschaft sich öffentlich zur eigenen Meinung zu bekennen, hängt davon ab, wie das "Meinungsklima" eingeschätzt wird. Je stärker man den Eindruck hat, mit seiner Meinung allein gegen eine Mehrheit zu stehen, umso größer werden die Hemmungen, sich zu äußern.
"Wir haben das Bedürfnis, von anderen akzeptiert zu werden", so Winter, "und das wollen wir nicht gefährden". Und das Meinungsklima in unserer Gesellschaft ist so aufgeheizt, dass der Eindruck entsteht, es gebe nur noch ein Dafür oder ein Dagegen. Die Polarisierung der Gesellschaft hat zugenommen, das zeigen verschieden Studien.
Alle haben Angst voreinander
Dabei ist es ja keineswegs gesetzlich verboten, seine Meinung zu sagen, solange sie nicht zu Gewalt und Hetze aufruft oder den Nationalsozialismus verharmlost. Doch das Gefühl "man kann Dinge nicht mehr sagen", wird aus dem linken wie dem konservativen Spektrum unserer Gesellschaft geäußert. Auch Medienpsychologe Winter bestätigt, dass es diese Ängste vor Sanktionen oder Ausgrenzung in allen politischen Lagern gibt. Alle haben also Angst voreinander, so könnte man es zusammenfassen, meint auch Winter.
Linguistik Was heißt "moralisieren"? (1/2) – Der Zeigefinger in der Sprache
Ein beliebter Vorwurf: Die Deutschen würden so viel moralisieren! Egal, ob es ums Fleischessen geht, um Flüchtlinge oder um Waffenlieferungen. Stimmt das? Was sagt die Sprachforschung dazu? Gábor Paál im Gespräch mit der Linguistin Maria Becker.
"Dadurch, dass in den Sozialen Medien Leute mit extremeren Meinungen oder starken Einstellungen lauter sind, kann es auch zu Fehleinschätzung in Bezug auf die öffentliche Meinung kommen", sagt Winter. Wir denken, diese anderen Meinungen wären weit verbreitet und wollen uns nicht dem Konflikt aussetzen. Aber auch Winter beobachtet, dass es schwieriger geworden ist, seine Haltung zu vertreten.
"Entscheidend ist, was man sagen kann, ohne sozial isoliert zu werden oder soziale negative Konsequenzen zu bekommen. Und das kann man schon sagen, die bekommt man jetzt schneller zu spüren." Vor allem in den Sozialen Medien kann der Shit-Strom unmittelbar und massiv über einen hereinbrechen. Und auch, wenn man die anderen, die sich äußern, nicht persönlich erlebt, können die heftigen Reaktionen sehr verletzend wirken.