Daniel Schierbaums Zimmer misst bescheidene elf Quadratmeter. Er lebt spartanisch: Die niedrigen Decken des Altbaus drücken auf den Raum, das Waschbecken steht in der Ecke, das Bett gleich gegenüber. Es ist das typische Studentenleben. Doch öffnet er seinen Schrank, entfaltet sich eine andere Welt. Dann verwandelt er sich in einen edlen Herrn mit Zylinder, Frack, Zwicker und goldener Taschenuhr. Ein Mann von Welt in historischer Kleidung.
Vintage-Mode gefällt Daniel Schierbaum einfach besser
Der 29-jährige ist fasziniert von der Mode der Jahre 1890 bis 1920, die auch seine Alltagskleidung prägt. Ob bei der Arbeit oder an der Universität, stets trägt er historische Jacketts und Hosen, Krawatten, Westen, Stehkragen, Manschetten und natürlich Hüte.
Nur eine Jogginghose und eine moderne Stoffhose sowie ein paar Hemden besitzt er für den Hausgebrauch– nicht aus Vorliebe, sondern um seine kostbaren historischen Kleidungsstücke zu schonen. Aktuelle Mode hat in seinem Leben keinen Platz, sie gefällt ihm schlichtweg nicht.
Von T-Shirt und Hoodie lasse ich die Finger weg!
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Er behandelt seine historische Kleidung mit viel Liebe
Mit äußerster Vorsicht und Liebe behandelt er seine Kleidung. Begeistert streicht er über einen schwarzen Filzhut mit Grifffalte, gestreifter Krempe und Seidenband – einen sogenannten "Homburger“. Schon an seiner detaillierten und liebevollen Beschreibung merkt man: Damals waren Kleider noch wertvolle Güter, die man pfleglich behandelte und auf die man stolz war. Kein Wunder, denn ein Anzug begleitete seinen Träger oft ein Leben lang. Der Verstellriemen über dem Gesäß konnte gelockert werden, wenn der Umfang einmal zunahm.
Die Stoffqualität der Kleidung ist im Vergleich zu heute wundervoll. Reine Wollstoffe und reines Leinen, das Innenfutter aus Seide. Und vor allem die Verarbeitungsqualität ist toll: Handgenähte Schneiderarbeiten, keine industrielle Massenanfertigung.
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Bei Manschetten ist Geduld gefragt
Das Ankleiden kann bei Daniel Schierbaum schon mal länger dauern. Reißverschlüsse waren damals noch nicht erfunden, daher wird an Weste und Hose fleißig geknöpft und geschnürt. Statt einen Reißverschluss an der Hose schnell zu schließen, knöpft er die Hosenträger in die Schlaufen und schnallt den Verstellriemen am Hintern fester.
Danach legt er die Manschetten über die Arme und friemelt den steifen Kragen um den Hals. Lediglich bei der Fliege geht es schneller, denn Krawatten und Fliegen waren damals schon vorgebunden und ließen sich mit einem kleinen Haken am Kragen befestigen. "Das war sehr schlau, früher trugen die Männer schließlich jeden Tag Krawatte und Fliege", erklärt der Student.

Auf die Frage, ob die Mode nicht steif und unbequem sei, schüttelt er entschlossen den Kopf. Nein, sie sei sogar besonders bequem. Die Hemden sind weit geschnitten, und es gibt keinen Gürtel, der den Bauch einschnürt.
Mit Chapeau Claque – einem aufklappbaren Zylinder – Frack und edlem Gehstock wirkt er wie ein Fremdkörper in seiner winzigen Studentenbude. In der Tübinger Innenstadt hingegen mit ihren vielen historischen Bauten passt er perfekt ins Bild.
In Tübingen schon eine kleine Berühmtheit
Elegant schreitet er durch die Gassen. Mittlerweile ist er eine kleine Berühmtheit in Tübingen. Viele bleiben stehen oder drehen sich um, um Daniel genauer zu betrachten. "Ich bekomme meistens positive Reaktionen, wirklich Negatives ist mir noch nie passiert." Über Fragen zu seiner Vintage-Mode freut er sich immer. "Ich erkläre gerne, was es damit auf sich hat und wie ich dazu gekommen bin."
Ich finde es einen tollen Look! In meinem Freundeskreis ist er schon eine Legende. Wir feiern, dass er seinen eigenen Stil durchzieht.
Vintage-Mode aus der Wilhelminischen Ära trägt er seit rund vier Jahren
Alles begann während der Corona-Pandemie. Student Daniel und seine Freundin fingen an, sich für historische Mode zu interessieren. Sie stöberten im Internet und fanden zahlreiche Abbildungen aus jener Zeit. Die Mode der Epoche von den 1880er bis zu den 1920er Jahren, auch bekannt als "late Victorian" oder "Wilhelminisch", gefiel ihnen besonders. Nach und nach tauschte Daniel seinen Kleiderschrank aus.
Für eines seiner historischen Lieblingsstücke – Hose und Jackett – hat er gerade mal 60 Euro bezahlt. Er kauft die Vintage Mode im Internet, manchmal auch auf Flohmärkten. Ihm geht es jedoch nicht um den Preis. Gerade in der heutigen Zeit der "Fast Fashion" findet Daniel es wichtig, Kleidung möglichst lange zu tragen und nicht wegzuwerfen. Seinen Stil, sagt er, hat er jetzt gefunden.
Mit Zwirn und Zwicker bei der Arbeit
Im Antiquariat, seinem Arbeitsplatz angekommen, zückt er seinen Zwicker. Damals ein Sinnbild für Weltgewandtheit und Bildung, passt der Zwicker perfekt zum Geschichtsstudenten Daniel Schierbaum. Die Sehhilfe sitzt mit einer Klammer auf seinem Nasenbein, die Gläser hat er sogar beim Optiker anpassen lassen.
Ein Kunde hat mich tatsächlich mal gefragt, ob das meine Arbeitskleidung sei.
Sein Chef hat nichts gegen Daniels historische Mode einzuwenden. Schließlich passt er, mit seinem Zwicker in einem Buch blätternd, nahezu perfekt zwischen die bis zur Decke reichenden Bücherstapel.
Doch wirklich in dieser Zeit leben möchte Daniel Schierbaum nicht. Für ihn gilt: "Vintage Fashion, not Vintage Values". Das heißt, es geht ihm allein um die Mode, nicht darum, die gesellschaftlichen, politischen und technologischen Zustände jener Zeit zurückzuwünschen.
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