Opfer nicht als Polizist erkannt?

Prozess nach Messerangriff auf Rouven Laur in Mannheim: Attentäter will aussagen

Stand
Autor/in
Holger Schmidt
Patrick Figaj
SWR Journalist Patrick Figaj

In Stuttgart läuft das Strafverfahren wegen des Anschlags auf dem Mannheimer Marktplatz. Am Dienstag will der Angeklagte aussagen. Sein Anwalt hat mit dem SWR darüber gesprochen.

Am sechsten Prozesstag in Stuttgart-Stammheim will sich Sulaiman A. zum ersten Mal in diesem Staatsschutzverfahren zu seiner Tat am 31. Mai 2024 äußern. Die Tat sorgte durch den Tod des Polizisten Rouven Laur und ein Live-Video der Ereignisse für bundesweite Aufmerksamkeit. Der Täter Sulaiman A. wurde nach seinem Angriff von der Polizei angeschossen und schwebte einige Tage in Lebensgefahr. Die Aufnahmen seiner eigenen Tat habe der Angeklagte das erste Mal auf der Intensivstation gesehen, sagt dessen Rechtsanwalt Mehmet Okur. Der Strafverteidiger hat mit dem SWR darüber gesprochen, was A. in Saal 1 des Gerichtsgebäudes in Stuttgart-Stammheim am Dienstag sagen will.

Angeklagter erschrocken über eigene Tat?

Okur ist der Auffassung, das Video habe Sulaiman A. erschreckt: "Seine Augen waren weit aufgerissen." Später in der Haft habe der Angeklagte gesagt: "Das bin nicht ich!", so Okur. Damit wolle A. aber nicht leugnen, dass er der Täter sei. Er wolle damit ausdrücken, dass er sich selbst nicht wiedererkenne.  

Die beiden Verteidiger des Angeklagten haben während des Prozesses eine "umfassende Aussage" zu den Geschehnissen auf dem Mannheimer Marktplatz gegenüber dem Gericht für den 25. März angekündigt. Sulaiman A. werde das Geschehen aus seiner Sicht schildern. Er sei auch bereit, Fragen des Gerichts zu beantworten, hieß es zuletzt in der vergangenen Verhandlung.

Anwalt spricht von "Turbo-Radikalisierung"

Gegenüber dem SWR skizziert Strafverteidiger Mehmet Okur die Geschichte einer "Turbo-Radikalisierung". Ob das Gericht dem Angeklagten diese Geschichte abnehmen wird, ist eine andere Frage. Etliche Aussagen von Experten und Ermittlern des Bundeskriminalamtes (BKA) sowie des Landeskriminalamtes (LKA) lassen bislang durchaus auch andere Schlüsse zu.

Folgt man der Schilderung seines Anwalts, hat sich Sulaiman A. erst wenige Monate vor der Tat radikalisiert. Er habe gut integriert mit seiner Frau und zwei Kindern in der Eigentumswohnung seines Schwiegervaters im hessischen Heppenheim (Kreis Bergstraße) gelebt. Er kam, das schilderte A. am ersten Verhandlungstag selbst, als Minderjähriger mit seinem Bruder nach Deutschland und hatte zuletzt von Aushilfsjobs und staatlicher Unterstützung gelebt. Er hatte über die Abendschule den Weg bis hin zum Abitur angestrebt. 2026 wäre er fertig gewesen. Der Versuch einer Selbständigkeit mit einer Reinigungsfirma ging schief. Neben seiner Familie, so der Verteidiger, sei ihm sein Glaube sehr wichtig gewesen. Er habe sich im Internet intensiv damit beschäftigt.

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Tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Islam

Islamwissenschaftler hatten diese intensive Auseinandersetzung mit der Religion in der Hauptverhandlung bekräftigt. So habe sich A. mit zum Teil schwierigen und sehr tiefgründigen Texten auseinandergesetzt. Er sei ein "Suchender" gewesen. Und das bereits einige Jahre vor der Tat. Ein Ermittler nennt das zweite Halbjahr 2021, ein anderer Experte den November 2022 als Zeitpunkt, ab welchem A. radikalere Inhalte konsumiert haben soll. Inhalte aus dem Kontext des sogenannten Islamischen Staates (IS). Es sind brutale Videos voller Gewalt und Propaganda.

Angeklagter sei an "radikale Leute geraten"

Im Netz, sagt Verteidiger Okur, sei der Angeklagte an "radikale Leute" geraten. Besonders im Fokus steht bei den Ermittlungen eine Person, ein gewisser "O.R.", den A. als Lehrer bezeichnet. Dessen Identität ist bislang allerdings unklar. Zuletzt soll er intensiven Kontakt über den Messengerdienst Telegram zu Sulaiman A. gehabt haben. Allem Anschein nach handelt es sich um einen Mann aus Afghanistan.

Bei ihm holte sich A. Bestätigung für seine Tat am 31. Mai. Auch das wird im Laufe der Hauptverhandlung deutlich. Ende 2023, so beschreibt es der Hauptsachbearbeiter im Fall A. bei seiner Befragung, habe Sulaiman A. bei "O.R." nachgefragt, ob er "Ungläubige oder Mehrgläubige töten könne". Ein Aspekt, bei dem der Vorsitzende Richter Herbert Anderer explizit nachhakte. Denn auch exekutive Gewalt, die Polizeiarbeit, der Staat an sich und nicht zuletzt die Justiz gelten nach dieser Sicht als Feinde. Den Ermittler fragt der Vorsitzende Richter: "Sie wären auch ein Feind? Und ich als Richter auch, korrekt?" Die Antwort darauf ist knapp: "Richtig."

Die Anwälte des mutmaßlichen Attentäters von Mannheim
Strafverteidiger von Sulaiman A: Mehmet Okur (links) und Axel Küster

Suche nach dem Motiv von Sulaiman A.

Weniger klar bislang: das Motiv. Die Ereignisse in Nahost hätten seinen Mandanten sehr beschäftigt, sagt sein Anwalt. So habe A. den Eindruck gehabt, etwas für die Menschen im Gaza-Streifen tun zu müssen. 

A. habe vor allem den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu für die Situation verantwortlich gemacht, für das Leid der Muslime im Gaza-Streifen. Ihn habe er als Feind gesehen. In Chats mit "O.R." heißt es: "Macht diese Gegend (Deutschland und USA) zu Gaza! (…) Egal wo ihr sie erwischt, (…) macht diese Orte zur Hölle."

Ähnlich sei es mit Michael Stürzenberger gewesen, der am Tattag als Redner der "Bürgerbewegung Pax Europa" (BPE) auf dem Mannheimer Marktplatz auftreten wollte, sagt Verteidiger Okur. Stürzenberger gilt als das Gesicht der islamkritischen BPE und hat in der Szene einen Namen. Schon bei einer früheren Veranstaltung von Stürzenberger in Frankfurt am Main sei A. gewesen, doch damals habe er sich nicht entschließen können, etwas gegen ihn zu unternehmen. Ob Stürzenberger am 31. Mai in Mannheim reden würde, habe A. nicht sicher gewusst. Nur die Veranstaltung der BPE sei ihm bekannt gewesen. Deswegen habe er "schauen wollen".

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Angeklagter bereitete sich auf Veranstaltung in Mannheim vor

So ganz unverbindlich scheinen die Gedanken von Sulaiman A. nicht gewesen zu sein. Denn Rechtsanwalt Okur sagt auch: Auf dem Weg nach Mannheim habe sein Mandant sein aktuelles Handy versteckt. In einem Altpapiercontainer vor seinem Haus. Sein Plan sei gewesen, es nach dem Besuch in Mannheim wieder an sich zu nehmen. Nach Mannheim fuhr er nur mit einem alten Telefon ohne SIM-Karte und dachte, er könne damit unerkannt über offenes WLAN kommunizieren. 

Vor Ort habe er Stürzenberger erkannt und angegriffen. Aus Rache für verfolgte Muslime. Doch dann sei er von anderen Personen daran gehindert worden. 

Wollte A. als Märtyrer sterben?

An dieser Stelle wird die Schilderung des weiteren Ablaufs für das Gericht besonders interessant werden. Denn der Angriff auf Stürzenberger ist durch mehrere Videos dokumentiert. Warum aber griff A. danach den Polizeibeamten Rouven Laur an und stach ihm mit tödlicher Folge in den Hals? Weil er alle "Ungläubigen" töten wollte, wie es die Anklage unterstellt? Oder weil er hoffte, wegen seines Angriffs getötet zu werden und damit aus seiner Sicht ein Märtyrer zu sein? 

Rechtsanwalt Okur sagte dazu dem SWR: "Sulaiman A. hat gar nicht erkannt, dass Rouven Laur ein Polizist ist." Er habe nur "irgendwen" von der BPE treffen wollen. Im Krankenhaus sei er "entsetzt und schockiert" gewesen, dass es ein Polizeibeamter gewesen sei und was er angerichtet habe, sagt sein Anwalt. Sterben habe A. bei dem Angriff nicht wollen. Sondern zurück nach Hause.

Richtungsweisender Prozesstag

Die Richter des Staatsschutzsenats werden sich die Aussage am Dienstag vor Gericht anhören und dazu sehr wahrscheinlich Nachfragen haben. Sie werden sich die Frage stellen, wie glaubhaft es selbst in einem Getümmel ist, einen uniformierten Polizisten nicht als solchen zu erkennen. Und was es bedeutet, wenn ein Täter sein Opfer gezielt so sticht, dass die Einsatzkleidung und die Schutzweste keinen Schutz bieten. 

Schon nach dem bisherigen Verlauf des Prozesses spricht viel dafür, dass Sulaiman A. wegen Mordes verurteilt werden wird. Auch die "besondere Schwere der Schuld" und der Vorbehalt einer möglichen Sicherungsverwahrung nach Verbüßen der Haft stehen im Raum. Möglicherweise sind es diese Punkte, die es für die Verteidigung ratsam scheinen lassen, "die Hose völlig runterzulassen". So formuliert es Rechtsanwalt Okur. 

Hinweis: Nach Erscheinen dieses Artikels hat sich Rechtsanwalt Okur nochmals beim SWR gemeldet und legt Wert auf die Feststellung: Zwar habe er dem SWR gesagt, dass sein Mandant Rouven Laur nicht als Polizist erkannt habe - doch dies sei ein Missverständnis gewesen. Tatsächlich habe sein Mandant Laur als Polizeibeamten erkannt, aber nicht töten wollen.

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