Impfstoff-Entwicklung

Kein Held im Kampf gegen Covid-19: Winfried Stöcker und das Antigen

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SWR Wissen

Der Lübecker Forscher Winfried Stöcker entwickelt ein Antigen gegen das neuartige Coronavirus und verimpft es Freiwilligen ohne Genehmigung. Auf die Menschenversuche folgen juristische Maßnahmen – und ein merkwürdiger Beitrag von Spiegel TV.

Im kleinen Ort Groß Grönau in Schleswig-Holstein forscht Winfried Stöcker in seinem Labor. Dort hat der Lübecker Mediziner, Forscher und Unternehmer ein Antigen entwickelt, mit dem er Covid-19 bekämpfen will. Sich selbst und hundert Freiwilligen habe er das Antigen auch schon gespritzt. Der Wirkstoff ist allerdings nicht zugelassen und eine Genehmigung, ihn Probandinnen und Probanden zu verabreichen, hat Winfried Stöcker auch nicht. 

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), welches für die Zulassung von Impfstoffen in Deutschland zuständig ist, und das Landesamt für soziale Dienste (LAsD) in Schleswig-Holstein reagieren darauf mit einer Anzeige.

Winfried Stöcker am Mikroskop (Archivfoto 2012)
Winfried Stöcker entwickelt ein Antigen gegen das neuartige Coronavirus.

Genau zu diesem Vorgang hat Spiegel TV am 3. März 2021 einen Videobeitrag ausgestrahlt, der seitdem auch in den sozialen Netzwerken kursiert. Schon die Anmoderation des Beitrags suggeriert folgendes Bild, das sich im Beitrag fortsetzt: Das Antigen-Mittel sei ein „Wundermittel“ eines „mutigen Impfstoff-Entwicklers“, welches von offiziellen Stellen „ausgebremst“ werde. Das Antigen soll eine mögliche Lösung sein für das „Impfchaos“, in dem Deutschland im Augenblick versinke. Wie das funktionieren soll, wird aber nicht erklärt.  

Nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern auch aus journalistischer Sicht lässt der Beitrag viele Fragen offen. Die Gegenseite kommt nämlich nicht zu Wort. Es werden nur einzelne Passagen aus den offiziellen Anzeigen des PEI und des LAsD zitiert. Der Fokus des Beitrags liegt auf den Vorteilen von Stöckers Antigen.

Unbelegte Behauptungen

Der Wirkstoff von Winfried Stöcker habe eine hohe Wirksamkeit, kaum Nebenwirkungen, sei rasch lieferbar, einfach herzustellen und zu kühlen und mit kleinen Modifikationen auch gegen die Mutanten des Sars-CoV-2-Virus wirksam. Belege oder Studien für diese Behauptungen hat Winfried Stöcker bislang nicht vorgelegt.

Seine Angaben zur Wirksamkeit stammen von einem Selbstversuch und den 100 Freiwilligen, denen Stöcker das Antigen verabreicht hat. 97 Prozent der Geimpften haben, Stöckers Aussage zufolge, hohe Konzentrationen an Antikörpern entwickelt. Wie hoch diese Konzentrationen genau sind, wird nicht angegeben. Sie sollen aber ausreichen, um das Virus zu neutralisieren. Entsprechende Unterlagen oder eine belastbare Einschätzung durch ein Labor werden im Beitrag nicht angeführt. Es seien alle von ihm Geimpften jetzt gegen Corona immun, sagt Stöcker - und setzt sich damit in einen Widerspruch zu den zuvor von ihm genannten 97 Prozent, die eine hohe Konzentration von Antikörpern nach der Verabreichung entwickelt haben sollen. Nicht die einzige widersprüchliche Aussage in diesem Beitrag.  

Röhrchen in einer Zentrifuge
Winfried Stöckers Antigen soll eine hohe Wirksamkeit gegen Corona besitzen. Dabei aber den Körper nicht schädigen. Belege gibt es dafür nicht.

Was Christian Drosten dazu sagt

Der Beitrag von Spiegel TV stützt sich auf die Aussage, dass renommierte Wissenschaftler die Wirksamkeit des von Stöcker entwickelten Antigens bestätigt hätten. Namentlich genannt wird der bekannte Virologe Christian Drosten. Das Video vermittelt den Eindruck, als ob Drosten von Stöckers unzulässigen Menschenversuchen gewusst und sie sogar gut geheißen hätte. Wer genau zuhört, merkt aber, dass Drosten in der E-Mail, die SpiegelTV zitiert, nur auf Stöckers persönlichen Selbstversuch eingeht: 

“Insgesamt kann ich ihren Selbstversuch gut nachvollziehen, aber man muss natürlich beachten, dass die Vermarktung eines Impfantigens sehr hohe Qualitätsansprüche erfüllt, wenn man den Impfstoff vermarkten will.” 

Im Beitrag heißt es weiter, dass der bekannte Virologe dem Lübecker Forscher anbot, Neutralisationstests durchzuführen. Damit wird überprüft, ob sich durch die Impfung Antikörper gebildet haben, die Viren ausschalten können. Im Text des Videobeitrags ist dazu von mehreren “Geimpften” die Rede. Tatsächlich gibt Stöcker im Originalton aber wiederum nur an, dass er Serum – also Blut – von sich selbst zu Drostens Labor geschickt habe. Von anderen Proband:innen ist dann keine Rede mehr.  

Bewusste Manipulation?

Im Bild sind währenddessen Unterlagen zu sehen, die Stöcker sichtet. Bei genauem Hinsehen zeigt sich: Es handelt sich dabei um einen “Gesamtbefund” aus Stöckers eigenem Labor, einen internen Lieferschein seiner ehemaligen Firma und einen E-Mail-Verlauf mit einem Absender, dessen Namen zwar dem von Drosten durchaus ähnelt, der aber eben nicht jener von Christian Drosten ist. Das alles ist zu sehen, während im Text von Neutralisationstests bei Dr. Christian Drosten die Rede ist. So entsteht der Eindruck einer sehr umfangreichen Korrespondenz mit ebenso umfangreichem Datenaustausch zwischen Drosten und Stöcker in Bezug auf diese Tests.

Wenn man all das außer Acht lässt, bleibt nur noch Stöckers Aussage: Dass die Neutralisationstests im Labor der Charité ergeben haben, dass die in seinem eigenen Körper gebildeten Antikörper in der Lage gewesen seien, das Virus zu neutralisieren. Zumindest theoretisch ist das möglich. Die Wirksamkeit des Antigens als Impfstoff wäre damit aber noch lange nicht erwiesen. Die wird nämlich nicht nur im Labor ermittelt – und schon gar nicht anhand nur einer einzigen Probe. 

Wissenschaftler forschen in einem Labor
Die Wirksamkeit eines Impfstoffs-Kandidaten wird nicht nur im Labor ermittelt. Doch bevor es zu klinischen Studien kommt, muss zuerst im Reagenzglas und später in Tierversuchen geklärt werden, ob ein möglicher Impfstoff oder ein Medikament voraussichtlich ungefährlich ist.

Ermittlungen gegen Stöcker

Dass die Staatsanwaltschaft gegen Winfried Stöcker ermittelt, ist kein Wunder: Wenn er tatsächlich ohne die dafür erforderliche Erlaubnis anderen Personen einen ungeprüften Impfstoff gespritzt hat, verstößt das gegen alle Regeln der Zulassung von Medikamenten. Denn wer einen vielversprechenden medizinischen Wirkstoff entdeckt, muss in der EU folgende Schritte einhalten, ehe die Substanz bei Menschen zum Einsatz kommen darf: 

Zuerst muss im Reagenzglas und später in Tierversuchen geklärt werden, ob ein möglicher Impfstoff oder ein Medikament voraussichtlich ungefährlich ist. Dabei steht die Sicherheit im Mittelpunkt: Gibt es Hinweise auf toxische Effekte oder eine krebsfördernde Wirkung? Werden Embryonen geschädigt? Wird das Erbgut verändert?

Auch werden diese Ergebnisse in der Regel bereits in wissenschaftlichen Magazinen veröffentlicht, wo sie von unabhängigen Forschenden im sogenannten "peer review"-Verfahren überprüft werden. Stöcker hat bisher keine Ergebnisse auf diese Art veröffentlicht.

Der erste Einsatz beim Menschen

Wenn sich in den Tierversuchen ein positiver Effekt ohne bedenkliche Nebenwirkungen abzeichnet, können Wissenschaftler den Antrag auf eine klinische Studie einreichen. In Deutschland muss das Paul-Ehrlich-Institut zustimmen; auch eine Ethikkommission aus Medizinern, Theologen, Juristen und Laien ist beteiligt. Wenn sie grünes Licht geben, kann Phase 1 beginnen: mit gesunden, jungen Freiwilligen werden Sicherheit und Verträglichkeit des Wirkstoffs geprüft. Meist laufen diese frühen Studien mit etwa sechzig bis achtzig Probanden.

Erste klinische Tests an Menschen
Erst nachdem sich ein positiver Effekt ohne bedenkliche Nebenwirkungen in Tierversuchen abzeichnet und das Paul-Ehrlich-Institut zustimmt, dürfen Sicherheit und Verträglichkeit an gesunden, jungen Freiwilligen getestet werden. Auch eine Ethik-Kommission ist bei der Entscheidung beteiligt.

Im nächsten Schritt werden Impfstoff oder Medikament an einigen hundert Freiwilligen getestet. Jetzt sind häufig auch ältere Menschen mit dabei. In Phase 2 prüfen die Forscher weiter die Sicherheit und suchen nun verstärkt auch nach der optimalen Dosis. Wie gut ein Impfstoff schützt, zeigt sich erst in Phase 3: Bei den Corona-Impfstoffen waren zehntausende von Probandinnen und Probanden beteiligt. Je eine Hälfte der Teilnehmenden hat den Impfstoff bekommen, die andere nur ein Placebo – frühestens nach zwei Monaten wird die Schutzwirkung beurteilt.  

Erst wenn alle drei klinischen Testphasen erfolgreich verlaufen sind, ist die Zulassung einer neuen Wirksubstanz möglich. In Europa prüft die EMA, die Europäische Arzneimittelagentur, die Daten – bei Corona-Impfstoffen im beschleunigten „rolling review“-Verfahren. Bei den Studien zu Corona-Impfstoffen dürfen die Hersteller ausnahmsweise auch Studienphasen gleichzeitig laufen lassen. Ehe ein neuer Impfstoff in Deutschland auf den Markt kommt, muss er dann noch vom Paul-Ehrlich-Institut zugelassen werden.

Stöckers Impfstoff

Aber was ist das überhaupt für ein Impfstoff, den Winfried Stöcker entwickelt haben soll? Bei dem Wirkstoff handelt es sich um eine Protein-Untereinheit des Spike-Proteins des Coronavirus. Ein Protein-Impfstoff also – bei weitem keine neue Idee. Viele Grippe-Impfstoffe zum Beispiel funktionieren nach diesem Prinzip. 

Und auch was Corona-Impfstoffe angeht, betritt Stöcker kein Neuland: Viele Pharmaunternehmen, zum Beispiel das US-Unternehmen Novavax, entwickeln auch gegen das Coronavirus Protein-Impfstoffe. Die europäische Arzneimittelagentur hat für das Vakzin von Novavax Anfang Februar ein „rolling review“-Verfahren eingeleitet, bei dem laufend Daten des Herstellers gesichtet werden. Alle vier bisher in der EU zugelassenen Impfstoffe durchliefen ebenfalls dieses Verfahren. 

Novavax
Bei dem Wirkstoff von Winfried Stöcker handelt es sich um ein Protein-Impfstoff. Bei weitem keine neue Idee. Das US-Unternehmen Novavax, entwickeln auch einen Protein-Impfstoff gegen das Coronaviurs.

Keine neue Idee

Novavax gibt für seinen Impfstoff eine Wirksamkeit von knapp 90 Prozent an – also in dem Bereich, den auch Winfried Stöcker für seinen Impfstoff angibt – allerdings ging Novavax den korrekten Weg, um zu dieser Zahl zu gelangen: Nach den präklinischen Tests und der klinischen Phase-1- und -2-Studie wurde der Impfstoff in der Phase-3-Studie 15.000 Menschen verabreicht. Weitere 15.000 erhielten ein Placebo.

Stöcker dagegen kann keine Aussage treffen, ob und in welcher Häufigkeit durch seinen Impfstoff Infektionen komplett vermieden werden können oder ob und in welcher Häufigkeit schwere oder mittelschwere Verläufe vermieden werden. Um all diese Daten zuverlässig erheben zu können, müssen eben tausende bis zehntausende Menschen untersucht werden. 

Winfried Stöcker veröffentlichte das “Rezept” für seinen Impfstoff in seinem Blog. In dem Artikel sagt er, bei seinem Impfstoff bestehe kein Infektionsrisiko wie bei den mRNA- und Vektorimpfstoffen. Es ist nicht ganz klar, was er damit meint, denn weder bei mRNA- noch bei Vektorimpfstoffen werden replikationsfähige Krankheitserreger verabreicht. Die Nebenwirkungen bei seinem Impfstoff seien gering, sagt Stöcker, was stimmen mag, allerdings lässt sich von seiner Testgruppe mit 100 Personen kein zuverlässiges Nebenwirkungsprofil erstellen. Nebenwirkungen, die bei einer von 1.000, 10.000, 100.000 oder 1.000.000 Personen auftreten könnten, hat Stöcker wahrscheinlich nicht entdeckt. Ob er die Nebenwirkungen bei seinen Freiwilligen überhaupt überwacht, bleibt zumindest fraglich.

Nebenwirkungen sind durchaus zu erwarten

Dass der Impfstoff ein Adjuvans – einen Wirkverstärker – beinhaltet, verschweigt Stöcker zwar nicht, unerwähnt bleibt aber, dass dadurch die Gefahr von Nebenwirkungen steigt. Das verwendete Adjuvans Alhydrogel gilt zwar als relativ sicher, kann aber dennoch zu Nebenwirkungen führen. Menschen mit eingeschränkter Nierenfunktion oder mit einer Aluminium-Allergie sollte solch ein Impfstoff nicht verabreicht werden. 

Das alles muss nicht heißen, dass Stöckers Impfstoff nicht wirksam und sicher ist. Das Paul-Ehrlich-Institut bot ihm laut eigener Aussage auch an, ihn wissenschaftlich und in Fragen der Genehmigung von klinischen Studien und des Zulassungsverfahrens zu unterstützen. Gleichzeitig wurde Stöcker informiert, dass die von ihm beschriebene Impfung von damals vier weiteren Personen als eine "nicht genehmigte klinische Prüfung" gewertet werden könne und strafrechtliche Konsequenzen haben könnte. Dieses und weitere Beratungsangebote schlug Stöcker nach Angaben des PEI allerdings aus.

Winfried Stöcker
Stöcker verfolgt nun einen Plan B. Nämlich nicht den Impfstoff herzustellen, aber die Rezeptur für seinen wichtigsten Bestandteil – das Antigen – auf seine Homepage zu stellen.

Wird das Mittel trotzdem verimpft?

Spiegel TV muss sich den Vorwurf gefallen lassen, sich durch die unkritische und dadurch tendenziöse Berichterstattung mit den fragwürdigen Praktiken Stöckers gemein gemacht zu haben. Im TV- Beitrag weist Stöcker zum Schluss auch darauf hin, dass er nun einen Plan B verfolge. Nämlich jenen, den Impfstoff nicht herzustellen, aber die Rezeptur für seinen wichtigsten Bestandteil - das Antigen - auf seine Homepage zu stellen. Mit der Offenlegung der Rezeptur des von ihm entwickelten Antigens könne “dann jeder Arzt seinen eigenen Impfstoff herstellen und seinen Patienten verimpfen". Fraglich ist, ob das rechtlich zulässig ist. Das Paul-Ehrlich-Institut, welches in Deutschland für die Zulassung von Impfstoffen zuständig ist, erklärt, dass Winfried Stöcker in verschiedenen Interviews den Begriff des individuellen Heilversuchs verwendet habe, der es ihm als Arzt erlaube, nicht zugelassene Medikamente bei Freiwilligen einzusetzen. Ganz so einfach sei die Sache allerdings nicht:

Eine prophylaktische Impfung kann schon per Definition kein Heilversuch sein. Und bis zu welcher Größenordnung von Anwendungen man von „individuell“ sprechen kann, müssen gegebenenfalls Gerichte klären.

Auch der Pharmarechtsexperte Professor Wolfgang Voit von der Universität Marburg meint, dass der Begriff individueller Heilversuch hier vermutlich nicht angewendet werden kann. Er sieht noch weitere rechtliche Schwierigkeiten:

"Arzneimittelrechtlich kommt zunächst ein Verstoß gegen § 21 AMG in Betracht, weil auf der Internetseite angeboten wird, die Antigene gefriergetrocknet zuzusenden."

Ob das angebotene Produkte ein Fertigarzneimittel iSd. § 4 Abs. 1 AMG ist oder ob noch weitere Herstellungsschritte erforderlich sind, kann der Jurist nach dem Internetauftritt von Stöcker nicht beurteilen. Allein der Umstand, dass der Wirkstoff für die Anwendung vorbereitet werden muss, schließt aber nach §4 Abs. 31 AMG nicht aus, dass es sich um ein Fertigarzneimittel handelt.

Sollte es sich um ein Fertigarzneimittel handeln, so wäre bereits das Anbieten strafbar, auch wenn damit keine Gewinnerzielungsabsicht verbunden ist.

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