Kurz vor der Bundestagswahl am 23. Februar. Einer Studie des Rheingold-Instituts zufolge, breiten sich Frustration und Ratlosigkeit aus. Im Januar sind dafür 50 Wählerinnen und Wähler in mehrstündigen Interviews nach ihren Ängsten, Sehnsüchten und Wahrnehmungsmustern gefragt worden.
Die Teilnehmenden der Untersuchung des Kölner Rheingold-Instituts waren zwischen 20 und 65 Jahren alt und ihre Parteinähe entsprach der Stimmenverteilung der Wahlumfragen in der ersten Januarhälfte.
Neben den globalen Dauerkrisen wie Kriegen und Folgen des Klimawandels spüren die Wählenden immer stärker auch nationale Krisen, die ihren Lebensalltag unmittelbar treffen, sagt Stephan Grünewald, Diplompsychologe und Gründer des Rheingold-Instituts. Das verstärke das Gefühl unser eigenes Land funktioniere nicht mehr, es ginge uns schlecht.

Rheingold-Studie: Befragte sehen multiple Krisen
Das Grundgefühl der Teilnehmenden sei, wir stecken in einem gewaltigen Problemstau fest. Als wichtigstes Thema wird die Migration genannt. Das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger sei durch die jüngsten Anschläge erschüttert. Der Alltag wird durch die marode Infrastruktur, kaputte Straßen und Schienen, Ausfälle an Kitas und Schulen erschwert. Dazu komme die Sorge vor wegfallenden Arbeitsplätzen wegen der stotternden deutschen Wirtschaft und der Kaufkraftverlust durch die Inflation.
Insgesamt herrsche das Gefühl Deutschland sei nicht nur marode, sondern habe auch kein Geld mehr. Das führt zu zugespitzten Verteilungskämpfen, so Grünewald: „Also die Frage ist immer ‚kriege ich noch genug ab‘. Ressentiments sind da: die Fremden, die ins Land kommen, kriegen die nicht viel mehr von unserem Kuchen? Wäre es nicht sinnvoller unsere Verteidigungsfähigkeit zu stärken? (…) Also Glaubensgrundsätze, die lange stabil waren: es ist gut die Ukraine zu unterstützen – die geraten ins Schwimmen und sind Teil der großen Verwirrung, die wir im Moment bei den Wählenden bemerken können.“

Besonders enttäuscht sind Wählende von der Politik
Auf die Politik haben viele einen Groll. Von der Ampelregierung fühlten sich Bürgerinnen und Bürger allein gelassen. Durch den ständigen Streit waren die Koalitionsparteien zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch auch für die Zukunft fehlten überzeugende Visionen und weder die Kandidaten noch die möglichen Koalitionen überzeugten die Wählenden.
Dabei sei die Gesellschaft grob in zwei Lager aufgeteilt, so Grünewald: „In eher grünen, linken, bürgerlichen Lagern war so das Gefühl vorherrschend: wenn die AFD drankommt, dann droht der Untergang des Abendlandes und wir müssen jetzt zusammenstehen, wir müssen die Werte der Demokratie verteidigen, und dann, wenn uns das gelingt, dann wird hoffentlich alles wieder gut.“
Es zeigt sich also eine idealisierende Tendenz: Man müsse nur zusammenrücken und die Demokratie stärken, dann werde man einen Großteil der Probleme meistern können.
Was Wahlumfragen wirklich können
Liberale und konservative Lager unterscheiden sich zur Bundestagswahl deutlich in ihren Ansichten
Das andere, eher konservative oder AfD-nahe Lager dagegen postuliere düster: Der Untergang des Abendlandes sei schon lange da. Jetzt müsse man herausfinden, wer daran schuld ist und den bestrafen.
Hier gibt es eine starke Sehnsucht nach rigiden Maßnahmen. Dieses Lager fühlt sich gestützt durch Trumps Vorbild, der nach der Wahl zum Präsidenten scheinbar willkürlich durchregiert. Da kommt bei vielen das Gefühl auf: „Sollen wir nicht auch viel egoistischer sein? Sollen wir nicht auch dem Beispiel Tumps folgen und ‚Germany First‘ postulieren? Sollen wir nicht – sagen wir mal ohne Rücksicht auf Verluste – Sachen durchbringen und gucken hinterher erst was passiert?“, erläutert Grünewald.

Einen Linksruck habe man nicht feststellen können – eher im Gegenteil
Dieser Rechtsruck sei in den Interviews klar spürbar gewesen, findet Grünewald. Dabei macht er zwei Gefühle aus, die dazu führen können. Einmal dass der Rückzug ins Private nicht mehr gelingt, weil selbst dort die Probleme nicht mehr ignoriert werden können. Und gleichzeitig das Gefühl, dass der Problemstau riesig ist. Das wecke verzweifelte Sehnsüchte nach einem Befreiungsakt wie ihn Trump in den USA vermeintlich vormacht.
Beide Lager eint jedoch, dass sie Stillstand und „Weiter so“ für bedrohlich halten. Sie wünschen sich, dass eine zukünftige Regierung die Probleme klar benennt und Lösungen umsetzt, ohne sich parteitaktisch zu zerstreiten. Am besten mit konkreten Handlungsaufforderungen für alle. Das sei wichtig, unterstreicht der Psychologe, denn die Menschen sehnten sich danach mitzumachen. Das habe sich bei der Energiekrise gezeigt, als fast alle Bürgerinnen und Bürger aber auch die Unternehmen mitgeholfen hätten Energie zu sparen, um gut durch den Winter zu kommen.
„Es braucht wirklich die klaren Ziele. Es braucht zweitens das Gefühl, das ist ein Ziel, das für alle gilt, wo auch alle - wie bei der Energiekrise - mitwirken und es muss immer drauf geguckt werden, was kann der Einzelne denn leisten. Wie kann die Selbstwirksamkeit aktiviert werden. Es gibt eine Sehnsucht nach Vergemeinschaftung, die wir jenseits von Olympia oder Fußballturnieren zelebrieren können in Deutschland“, so Grünewald. Hierfür brauche es aber klare Ansagen. „Und dann sind wir auf einem guten Weg.“
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