Laut Umfragen haben die meisten Menschen vor öffentlichen Auftritten sogar mehr Angst als vor Insekten, dem Fliegen oder sogar dem Tod. Eine Möglichkeit, sich das Lampenfieber abzutrainieren, soll virtuelle Realität bieten. Entsprechende Anwendungen sind bereits auf dem Markt, kosten aber in der Regel Geld.
Inzwischen gibt es aber auch eine kostenlose Plattform, die virtuelle Realität zur Überwindung von Lampenfieber einsetzt. Entwickelt wurde die Plattform von einem Professor an der Universität Cambridge. Sie umfasst Lernmaterialien, fotorealistische Lernumgebungen in virtueller Realität und Unterstützung durch einen KI-Coach. In einer Pilotstudie berichteten knapp 30 Teilnehmende bereits nach einer einzigen halbstündigen Sitzung von deutlich mehr Selbstvertrauen. Aber hilft das wirklich nachhaltig gegen Lampenfieber?

Ist VR genauso wirksam wie eine Psychotherapie?
Lampenfieber abtrainieren mit Hilfe virtueller Realität - zunächst in einem leeren Klassenzimmer, später in einem prall gefüllten Stadion mit 10.000 Zuschauern. Anwendungen wie diese folgen dem Prinzip der Expositionstherapie, das auch bei Phobien zum Einsatz kommt, wie etwa der Angst vor Spinnen.

Normalerweise wird eine Expositionstherapie live mit einem Psychotherapeuten durchgeführt. Rund 90 Prozent der Behandelten erleben dabei eine deutliche Angstreduktion. Doch auch die Therapie mittels virtueller Realität zeigt sich als wirksam – zumindest als Soforthilfe.
"Es gibt gute Studien, die zeigen, dass das kurzfristig mit der realen Behandlung vergleichbar ist", erklärt Dominik Bach. Er ist Professor für Künstliche Intelligenz und Neurowissenschaften an der Universität Bonn. "Langfristig ist die echte Psychotherapie etwas länger wirksam. Die Ängste kommen wieder bei der virtuellen Realitätsbehandlung."
Welche Vorteile hat die VR-Anwendung?
Der Neurowissenschaftler Dominik Bach glaubt zwar, dass die Live-Psychotherapie die verbreitetere und nachhaltigere Therapie ist. Die virtuelle Realität habe jedoch den Vorteil, dass sie individuell angewendet werden kann und leichter verfügbar ist, ohne das lange Warten auf einen Therapieplatz.
Eine Besonderheit an virtuellen Plattformen ist auch, dass ihre Wirksamkeit durch sogenannte Überexpositionstherapie gesteigert werden kann. Das bietet die Möglichkeit, in extremen Szenarien zu üben, die man im echten Leben wahrscheinlich nicht erleben würde, wie zum Beispiel in Stadien mit mehr als 10.000 Menschen.
Laut Jürgen Hoyer, Professor für Verhaltenstherapie an der TU Dresden, ist diese Strategie auch in der Phobiebehandlung wirksam: "In der Spinnenphobie-Therapie ist das wichtig, besonders für Menschen, die beruflich mit Spinnen zu tun haben. Da arbeiten wir lieber mit größeren Spinnen, wie etwa einer Vogelspinne. Wer gelernt hat, die Angst zu tolerieren, die entsteht, wenn eine Vogelspinne über den Arm krabbelt, und feststellt, dass diese Angst dann abebbt, erzielt einen wünschenswerten Effekt.“

Dieser Effekt ließe sich auch aufs Lampenfieber übertragen, vermutet Jürgen Hoyer: Wer in der virtuellen Realität vor Zehntausenden gesprochen hat, dem fällt es auch im realen Leben leichter, vor wenigen Leuten zu sprechen. Doch es gibt Ausnahmen: Für manche Studierende sei es viel schlimmer, vor fünf Leuten zu sprechen, wenn beispielsweise der Professor dabei ist.

Kritik: Kein "echter" Kontakt in der virtuellen Realität
Bei dem Training mit virtueller Realität fehlt also die eigene Wahrnehmung und die Reaktion des Publikums. Wenn es um Redeangst geht, ist der Kontakt mit Menschen wichtig, bestätigt Florian Esche, der als Sprech- und Kommunikationstrainer arbeitet. Er ist überzeugt, dass die Angst vor dem Kontakt mit echten Menschen nur durch den Kontakt mit echten Menschen wirklich angegangen werden kann.

Dennoch könnte eine kostenlose Online-Plattform wie die der Universität Cambridge nützlich sein, so der Kommunikationstrainer - für Menschen, denen die Zeit oder das Geld fehlt, um reale Trainings zu besuchen.
Bei welchen Ängsten kann die VR-Brille noch helfen?
Mittlerweile gibt es von den Krankenkassen übernommene Apps, digitale Gesundheitsanwendungen, in denen virtuelle Realität zum Einsatz kommt. Zugelassen sind diese bisher für Agoraphobie, also Angst vor großen Plätzen, und für soziale Phobie, erklärt Dominik Bach.
Für Höhenangst, Flugangst und die Angst vor Spinnen seien noch keine Apps zugelassen, so der Neurowissenschaftler. Einzelne Therapie-Einrichtungen würden aber bereits damit arbeiten.
Anders als Höhenangst ist die Angst vor öffentlichem Sprechen allerdings keine Krankheit, sondern ein recht verbreitetes Phänomen. Bei manchen Menschen liegt jedoch eine psychische Störung zugrunde, beispielsweise eine soziale Angst. Hier gerate eine VR-Anwendung, die nur gegen Lampenfieber hilft, an ihre Grenzen. Um eine soziale Angst zu behandeln, brauche es andere Formen von professioneller Hilfe, sagen Experten.
