24 Proben pro Tag, eine Woche lang, jeden Monat. Keine andere Stadt hat so viele Daten zum Cannabiskonsum gesammelt wie Stuttgart.
Seit März 2023, also ein Jahr vor der Legalisierung von Cannabis, wird im kommunalen Abwasser der Stadt der Gehalt von Carboxy-THC gemessen. Das Abbauprodukt von THC – die psychoaktive Hauptsubstanz der Cannabispflanze – wird über den Urin ausgeschieden und lässt sich darin zwei bis drei Tage lang nachweisen.
Bei diesem Drogentest haben alle mitgemacht, denn „auf die Toilette muss jeder. Das Abwasser lügt also nicht.“, sagt Peter Schilling, der als Leiter des Zentrallabors Stuttgart mit seinem Team die Proben nimmt, in der ARD-Wissen-Doku "Die Cannabis-Bilanz - Wie viel kiffst du, Deutschland?“.
Saisonale Schwankungen im Cannabis-Konsum
Im Sommer 2023 bleiben die Cannabis-Werte im Stuttgarter Abwasser zunächst recht gleich. Doch dann steigen sie, noch bevor das Legalisierungsgesetz in Kraft tritt. Mehr als doppelt so hohe Werte wie im Sommer messen die Forschenden im Februar 2024.

"Da war zunächst mal der Gedanke okay, die Konsumenten haben diese bevorstehende Legalisierung womöglich schon vorweggenommen.“, sagt Peter Schilling. Dieser starke Anstieg kurz vor der Legalisierung hat sich dann jedoch nicht fortgesetzt.
Zum Sommer 2024 hin sind die Zahlen wieder gefallen. Bei dem starken Anstieg handelt es sich um eine normale saisonale Schwankung – im Winter scheint mehr gekifft zu werden als im Sommer.
Insgesamt zeigen die Stuttgarter Abwasserdaten eine leichte Steigerung von rund 13 Prozent der Carboxy-THC-Werte gegenüber den Werten vor der Einführung des Gesetzes.
"Das Aufregende an den Daten ist, dass die eigentlich so unaufregend sind, weil man ja befürchtet hat, dass die Daten deutlicher ansteigen, von daher bin ich beruhigt, wobei man sagen muss, dass das ja keine langfristige Aussage ist, sondern eine Momentaufnahme.“, folgert Schilling.
Nicht nur Daten aus der Kanalisation ermöglichen eine Bilanz
Auch Zahlen aus der zentralen Suchtklinik der Stadt geben Aufschluss über die Effekte der Cannabis-Legalisierung: Hier gab es im Jahr 2024 von über 6.700 Patientinnen und Patienten um die 60 Fälle, in denen wegen einer Cannabis-Abhängigkeit als Hauptdiagnose behandelt und beraten wurde.
Seitdem Cannabis mit der Legalisierung enttabuisiert wurde, kommen Betroffene früher – und freiwillig in die Suchtklinik, erzählt Maurice Cabanis, der Ärztliche Direktor des Klinikums Stuttgart und erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin:
"Das, was oft so als großes Risiko vermutet wird und worauf wir uns auch gefasst gemacht haben ist, dass nach der Legalisierung möglicherweise der Konsum zunimmt, […] und dann womöglich auch die Drogen induzierten Psychosen zunehmen. Tatsächlich konnten wir das aber nicht nachweisen.“
Für den Mediziner ist der Konsum von Cannabis eher ein Warnsignal für eine schon bestehende Erkrankung. Denn wer konsumiert, hatte meist zuvor psychische Probleme durch Schwierigkeiten in der Kindheit, sagt Cabanis.

Legalisierung ermöglicht andere Behandlung einer Cannabisabhängigkeit
Die Gefahren von THC sieht Maurice Cabanis vor allem bei jungen Leuten. Doch ein Verbot bis 25 schätzt er als nicht zielführend ein. Er hält das aktuelle Gesetz für gut: "Allerdings nicht, weil wir dadurch weniger Patienten hätten, da wird sich vermutlich 0,0 Prozent verändern. Aber wir können sie jetzt anders behandeln.“
Vor dem Gesetz kamen die Jugendlichen als Täter automatisch in geschlossene Abteilungen. Nun dürfen sie auf die offenen Stationen, was andere Behandlungen ermöglicht, auch weil die Jugendlichen ohne Angst vor einer Polizeiverfolgung offener sprechen können, sagt Cabanis.
Für Justiz und Polizei bedeutet das Cannabis-Gesetz mehr Arbeit
Ein Ziel des Noch- Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) war es, mit der Legalisierung von Cannabis den Schwarzmarkt zu bekämpfen. Susanne Dathe, Oberstaatsanwältin in Stuttgart, sieht dieses Ziel durch das Cannabis-Gesetz nicht erreicht:
"Eigentlich gehört das neue Gesetz abgeschafft. Es führt zu Mehrarbeit, es erlaubt uns nicht mehr auf die Weise wie bisher die organisierte Kriminalität zu bekämpfen, der Jugendschutz hat sich verschlechtert und der Schwarzmarkt ist weiterhin da.“
Weil das Gesetz an vielen Stellen unklar und unsicher sei, entstünden deutlich kompliziertere Sachverhalte, sagt die Oberstaatsanwältin.
Auch für die Polizei sei der Ermittlungsaufwand mit der Teil-Legalisierung von Cannabis gestiegen. Legal ist infolge des Cannabis-Gesetzes das Mitführen von bis zu 25 Gramm für den Eigenbedarf.

"Die Problematik ist jetzt, dass wir deutlich mehr investieren müssen, um auch den Dealer zu überführen, dass er gedealt hat und dass es nicht bloß ein einfacher Besitz ist.“, erklärt Hendrik Weis, Leiter des Rauschgiftdezernats der Polizei Stuttgart.
Legaler Cannabisanbau stockt auch nach einem Jahr noch
Der Schwarzmarkt floriert weiterhin, auch weil es ein Jahr nach der Legalisierung noch immer kaum legale Cannabisquellen gibt. Die meisten Anbauvereine kämpfen noch immer mit den hohen Auflagen, sodass das meiste Marihuana, das ganz legal konsumiert werden darf, erst noch geerntet werden muss.
Die Stuttgarter Forschenden um Peter Schilling werden ihre Abwasseruntersuchungen in Stuttgart fortführen. Auch weil in den bisherigen Daten viele der Bezugsquellen, die durch das Cannabis-Gesetz legal geworden sind, noch nicht berücksichtigt werden konnten.