Badarf an intensiver Sprachförderung steigt
Immer mehr Kinder beginnen ihre Schullaufbahn ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Schätzungen besagen, dass ungefähr ein Fünftel aller Erstklässler nicht genügend Deutsch spricht, um dem Unterricht folgen zu können. Bundesweite Erhebungen gibt es dazu bisher nicht. Auch Lehrkräfte in den Grundschulen merken: Die Zahl der Kinder, die eine intensive Sprachförderung brauchen, steigt. Was noch vor einigen Jahren die Ausnahme oder typisch für bestimmte Bezirke einiger Großstädte war, ist nun immer häufiger Normalität.
Viele Kinder müssen erst einmal Deutsch als Zweitsprache, kurz DaZ, lernen. In den meisten Fällen sind die Lehrkräfte aber nicht ausreichend auf diese Aufgabe vorbereitet. Der Grund dafür liege auch in der Lehrerausbildung, meint Heidi Rösch von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.
DaZ-Fachkräfte fehlen trotz großen Bedarfs: keine Stellen, kein Geld
Schon lange fordern Experten mehr DaZ-Kompetenz an den Grundschulen. Doch: Ausgebildete DaZ-Fachkräfte werden nur selten eingestellt. Keine verfügbaren Stellen, keine finanziellen Mittel. Zwar schreiben die Bildungspläne eine intensive Sprachförderung vor, schaffen aber keine Grundlage, um sie tatsächlich umzusetzen. Es wird erwartet, dass Schulen sich selbst kümmern oder die Grundschullehrkräfte das nebenbei miterledigen.
Lehrkräfte sollten außerdem viel mehr für die Mehrsprachigkeit in den Schulklassen sensibilisiert werden, meint Heidi Rösch. An der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe forscht sie zum Thema Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft. Sie wünscht sich, dass Lehrkräfte generell öfter andere Sprachen in den Unterricht einbeziehen, zum Beispiel mehrsprachige Kinderbücher verwenden und die Kinder die Sprachen vergleichen lassen. Oder auch im Klassengespräch.
Mehrsprachige Grundschul-Kinder: besser in Mathematik und Englisch
Kinder mit Deutsch als Zweitsprache können so zeigen, was sie sprachlich drauf haben, und die Vielfalt von Sprache wird sichtbar. Wenn Kinder spüren, dass auch ihre Sprachen wertgeschätzt werden, gebe ihnen das Selbstbewusstsein und motiviere sie beim Lernen der Zweitsprache, so Heidi Rösch.
Das deutsche Schulsystem geht allerdings immer noch von einer homogenen, einsprachig deutschen Schülerschaft aus – obwohl die Realität schon lange eine andere ist. Die Kinder, die eingeschult werden, sind jetzt so verschieden wie nie zuvor: in ihrem Vorwissen, ihren familiären, kulturellen und eben auch sprachlichen Hintergründen. Trotzdem werden Kinder, die eine andere Sprache sprechen, als Problem wahrgenommen.
Mehr sogar: Ein großer Teil der Gesellschaft sieht in diesen Sprachen den Grund für die möglichen Deutschdefizite jener Kinder. Doch in der Wissenschaft ist unumstritten: Es überfordert Kinder nicht, zwei oder drei Sprachen zu lernen. Der größte Teil der Menschheit wächst mit mehreren Sprachen auf.
Studien belegen, dass mehrsprachige Kinder in der Grundschule besser in Mathematik sind und schneller andere Sprachen wie etwa Englisch lernen. Man könnte sogar sagen, dass Kinder mit nur einer Sprache unterfordert sind.
Probleme durch Sozialstatus und Segregation, nicht durch Mehrsprachigkeit
Nicht die Zweisprachigkeit sei das Problem, sondern vielmehr der schlechte Sozialstatus der Familien dieser Kinder und auch die Segregation in vielen Städten, meint Michael Becker-Mortzek von der Universität Köln. Auch Heidi Rösch findet es falsch, die Muttersprachen der Kinder negativ zu sehen, vor allem jene Sprachen, die in Deutschland weniger Sprachprestige besitzen.
Eltern sollten Sprachkompetenz der Kinder in der Familiensprache fördern
In Diskussionen zum Thema richten sich außerdem immer wieder Forderungen an Eltern, die eine solche Sprache mit niedrigem Prestige sprechen. Sie sollen doch besser mit ihren Kindern zu Hause Deutsch sprechen. Dann hätten diese weniger schulische Schwierigkeiten. Deutschdidaktikerin Heidi Rösch findet diesen Gedanken absurd. Sie findet es am wichtigsten, dass die Familien die sprachliche Kompetenz ihrer Kinder in der Sprache entwickelt, die für die Familie die richtige ist. Und davon profitiert dann die gesamte Sprachentwicklung.
Das bestätigt auch Schulleiterin Alexandra Beyer von der Riedseeschule in Stuttgart. Sie erlebt, dass die Kinder, die vom Elternhaus sehr differenziert und gut in ihrer Muttersprache gefördert werden, auch einen Super-Anschluss haben in einer anderen Sprache, egal, ob es nun Deutsch oder was anderes ist. Die Grundförderung im Elternhaus ist eine wichtige Geschichte, unabhängig welcher Herkunft und welcher Muttersprache. Deshalb sei es so wichtig, die Eltern mit einzubeziehen, sagt Alexandra Beyer.
Für Migrationssprachen ist das Angebot der Schulen zu gering
Das funktioniert natürlich nicht an allen Schulen. Viele Familien aus bildungsfernen Schichten können so eine sprachliche Bildung nicht leisten. Deshalb ist hier die Schule gefragt. Den größten Erfolg beim Deutschlernen haben Kinder, die ohne Deutschkenntnisse eingeschult werden, in einer koordinierten bilingualen Erziehung. Das bedeutet: Der Unterricht findet ab der ersten Klasse in Deutsch und der Herkunftssprache gleichermaßen statt. Bilinguale Schulen mit Deutsch und Englisch oder Französisch sind hoch angesehen und weit verbreitet. Für Migrationssprachen ist das Angebot währenddessen gering.
Positive Grundhaltung zu Mehrsprachigkeit erwünscht
Aufgabe der Politik ist es, die finanziellen Mittel und die Stellen für qualifiziertes Personal bereitzustellen. Angesicht der vielen Kinder mit einer anderen Herkunftssprache müsse es allerdings auch ein Umdenken geben, so die Meinung vieler Experten. Es brauche eine offene und wohlwollende Einstellung zur Mehrsprachigkeit, zu den Sprachen, die viele Kinder schon mitbringen, und zu ihrer Situation des Deutschlernens allgemein. Denn diese Kinder leisten Enormes.