Auf Smartphones, Tablet- und Notebook-Bildschirmen locken Hyperlinks und Werbebanner auf fremde Lesepfade im Internet und sorgen dafür, dass wir weniger konzentriert lesen. Ob wir einen längeren Text am E-Book-Reader oder im Buch lesen, macht aber keinen Unterschied, hat die Leseforschung herausgefunden. Denn der Bildschirm des Readers kommt einem gewöhnlichen Buch ziemlich nah.
Im Text versinken kann man analog und digital
Lesen ist eine über mehrere Jahrhunderte erworbene Kulturtechnik. Und immer noch kaufen Kinder und Jugendliche regelmäßig Bücher. Für welche Titel entscheiden sie sich? Bestsellerlisten spielen laut Buchhändlern bei Neuanschaffungen für den Kinder- und Jugendbuchbereich kaum eine Rolle.
Stattdessen entdecken sie ihre Bücherwünsche im Internet, auf Youtube oder wollen die Bücher zu ihren Lieblingsserien lesen. Und: Junge Leserinnen und Leser greifen lieber zum normalen Buch als zum digitalen Text.
E-Books erschließen keine neuen Lesergruppen
Aktuelle Studien des medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest zeigen, dass sich E-Books nicht im Medienalltag von Jugendlichen durchsetzen. Nur sieben Prozent der Jugendlichen lesen regelmäßig E-Books, wobei diese ohnehin zur Gruppe der Buchleser gehören.
Fünfundsiebzig Prozent der Jugendlichen beschäftigen sich nie mit digitalen Büchern. Einige Leseforscher empfehlen ohnehin, dass Kinder bis zur vierten Klasse zunächst ausschließlich an gedruckten Texten ihr Leseverständnis üben sollten – ohne digitale Texte und ohne die in digitalen Umgebungen üblichen Ablenkungen. Erst danach sollten sie in digitale und fortgeschrittene Lese-Tools eingeführt werden. Vorschläge wie diese sind jedoch nicht unumstritten.
Digitale Lesekompetenz als Schwerpunkt der aktuellen PISA-Studie
Lukas Heymann ist seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Lesen. Der Erziehungswissenschaftler schaut vor allem auf die alarmierende Zahl von etwa zwanzig Prozent der Viert- und Neuntklässler mit mangelnden Lesefähigkeiten. Das heißt, sie können die Grundidee eines Textes mittlerer Länge nicht erkennen und keine Zusammenhänge herstellen. Besonders schwer tun sich Jungs.
Die digitale Lesekompetenz war Schwerpunkt der aktuellen PISA-Studie. Die Schüler mussten zeigen, wie sie sich an den verschiedenen Informationen aus dem Netz orientieren. Sie mussten dabei Fakten von Meinungen unterscheiden, indem sie die Quellen kritisch bewerten.
Wenn man in der Grundschule digitale Medien aussperrt, so befürchtet es Lukas Heymann, wird eine Parallelwelt konstruiert, die nichts mit dem Lebensalltag der Kinder zu tun hat.
Analoges oder digitales Format: Unterschiede beim Erinnern
Wie nützlich sind Tablets und Lese-Apps für Kinder in der Grundschule? Motivieren sie Anfänger, die Leseschwierigkeiten haben? Oder lenken sie eher ab? Zu diesen offenen Fragen gibt es konträre Meinungen. Die Leseforschung hat aber gezeigt: Wer einen längeren, fiktiven Text digital liest, erinnert die Fakten der Geschichte ebenso gut wie der analoge Buchleser. Was die digitalen Leser aber weniger gut erinnerten, war die Chronologie der Ereignisse.
Was wann im Verlauf der Handlung geschah, konnten sich Leser besser merken, wenn sie das Buch in der Hand hielten, die Papierseiten vor- und zurückblätterten, sich vielleicht Lesezeichen zwischen die Seiten steckten. Kinder können ihren Lesefortschritt außerdem besser einschätzen, wenn das Gewicht der Seiten von rechts nach links wandert. Lesen ist also nicht nur ein mentaler, sondern auch ein sinnlicher Vorgang.
Flüchtiges Lesen ist heute die Regel
Der Lese-Alltag sehr junger Menschen sei heutzutage aber nicht sehr sinnlich, beobachtet Lukas Heymann von der Stiftung Lesen. Flüchtiges Lesen sei die Regel. Warum werden trotz zahlreicher Bemühungen der Lehrkräfte nur wenige Schüler zu überzeugten Bücherlesern?
Vorlesen: entscheidender Vorteil für die Lesekompetenz
Lukas Heymann bezweifelt nicht, dass vertieftes, konzentriertes Lesen wichtig sei. Er vermutet aber, dass dies nur von einem bestimmten Teil der Bevölkerungsgruppe gekonnt wird: nämlich den Kindern, denen vorgelesen wurde, die gut lesen gelernt haben, die gerne und viel lesen.
Es mag utopisch sein, allen Kindern die Freuden und Gewinne des vertieften Lesens zu eröffnen. Aber den Kindern, die keine vorlesewilligen Eltern haben, muss der Zugang zum intensiven Lesen zumindest angeboten werden. Alles andere wäre ein Armutszeugnis für ein Land, das seine führenden Politiker gerne als Bildungsrepublik bezeichnen. Dagegen sprechen allerdings die aktuellen Personal- und Bestandskürzungen vieler Kinder- und Jugendbibliotheken in Deutschland.