Schreie: vielfältig und strukturiert
Niemand möchte gerne angeschrien werden. Es tut in den Ohren weh, klingt bedrohlich und einschüchternd. Auch in der Wissenschaft waren Schreie lange Zeit nicht gerade ein Lieblingsthema. Aber das ändert sich. Denn zunehmend erkennen Forschende, wie vielfältig und strukturiert Schreie sein können und wie wichtig sie für das menschliche Leben sind. Und zwar schon, wenn das Leben gerade anfängt.
Babyschreisprache weist Muster auf
Kleine Babys schreien vor allem, wenn sie weinen. Was in den Ohren vieler Außenstehender oft unangenehm klingt, fasziniert Kathleen Wermke immer wieder aufs Neue. Sie leitet das Zentrum für sprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen am Universitätsklinikum Würzburg.
Vor etwa 30 Jahren begann sie, das Geschrei von Babys und Kleinkindern zu analysieren. Es gibt wohl kaum einen Menschen auf der Welt, der mehr Erfahrung damit hat als sie. Wo Laien nur ein Tohubawohu hören, erkennt Wermke automatisch Strukturen und Muster, eine ganz eigene Babyschreisprache.
Am Anfang war nicht das Wort, sondern die Schreimelodie
Natürlich unterscheidet sich das frühkindliche Schreien von der Sprache der Erwachsenen gravierend. Aber Kathleen Wermke ist fest davon überzeugt, dass wir über das frühe Schreien direkt in die Sprache hineinwachsen. In ihren Rhythmus und in die Art und Weise, wie wir Laute abwechselnd betonen oder nicht und ganze Melodiebögen erzeugen. Auf diese Weise könnte für Kathleen Wermke vor zwei Millionen Jahren die Menschheit überhaupt zur Sprache gekommen sein.
Um diese These zumindest für die heutige Sprachentwicklung zu belegen, hat Kathleen Wermke ein riesiges Archiv aus Schreien und Lauten angelegt. Inzwischen umfasst es eine halbe Million Laute von Babys und Kleinkindern aus Deutschland, Frankreich, Schweden, China, Japan und Afrika.
Deutsche Babys schreien in auf- und abfallenden Melodien
Wir sagen zum Beispiel "Mama" oder "Papa" und betonen die erste Silbe. In dieser auf- und abfallenden Linie weinen im Durchschnitt auch die meisten deutschen Babys, ganz anders als französische Babys mit einer Tendenz zu aufsteigenden Linien in der Melodie.
Aber wie kann es möglich sein, dass Babys schon wenige Tage oder Wochen nach der Geburt in der Melodie der Sprache ihrer Umgebung weinen? Für Kathleen Wermke gibt es nur eine Erklärung: Der Nachwuchs muss schon im Mutterleib eine Art Lauttraining durchgemacht haben.
Schreikurs für melodiearme Babys?
Ab dem dritten Lebensmonat gehen Babys dann verstärkt zu Lauten über, die keine Schreilaute mehr sind. Dann tauchen auch die ersten Konsonanten auf. In dieser Übergangsphase profitieren die Babys aber immer noch von dem, was sie sie im Schreien gelernt haben.
Kathleen Werke glaubt, dass man Babys, die in ihren Melodiebögen zurückbleiben, eine Art „Schreikurs“ verpassen könnte, indem man ihnen die Schreilaute schon weiter entwickelter Babys vorspielt.
Klassifizierung bei Erwachsenen: vier negative Schreitypen, zwei positive
Wenn ein Erwachsener „schreit“, woran können wir dann erkennen, welche Bedeutung die Ausrufe haben? Ist es Freude, Überraschung, Wut oder Schmerz? Dem ist Sascha Frühholz vom Institut für Psychologie der Universität Zürich nachgegangen. Er ließ Menschen in seinem Labor Schreie ausstoßen, die dann von Versuchspersonen klassifiziert werden sollten.
Frühholz entdeckte, dass sie dabei sechs verschiedene Emotionen unterschieden. Vier Alarmschreie für Furcht, Ärger, Schmerz und Trauer. Und zwei positive Schreie, bei denen die Versuchspersonen zum einen Freude wahrnahmen oder extreme Zustände von Vergnügen.
Freudenschreie haben mehr Melodie
Tatsächlich konnten die Versuchspersonen diese Schreie mithilfe verschiedener Eigenschaften relativ gut unterscheiden. Denn Angst- und Ärgerschreie klingen oft viel rauer als Freudenschreie. Und Ärgerschreie bevorzugen die tieferen Frequenzen.
Wenn wir vor Freude schreien, hört sich das melodiöser und heller an als bei anderen Schreien. Trotzdem geht die Evolutionsforschung davon aus, dass sich Freudenschreie erst recht spät entwickelt haben. Am Anfang der Evolution sollen die Angst- und Alarmschreie stehen, weil sie das Überleben sichern konnten.
Freudenschreie werden sehr früh als solche erkannt
Belege für diese Annahme gab es jedoch kaum, weshalb Sascha Frühholz die Annahme testete. Er spielte Versuchspersonen die sechs Schreitypen vor, die sein Team gefunden hatte. Ärger, Schmerz, Trauer, Furcht, Freude und Vergnügen. Die Probanden sollten dann so schnell wie möglich auf eine Taste für positive oder negative Schreie drücken.
Das Ergebnis überraschte, denn Freudenschreie wurden viel weniger falsch klassifiziert im Vergleich zu negativen Schreien. Die Studienteilnehmer reagierten auch viel schneller auf die positiven Schreie.
Die Gründe dafür vermuten Wissenschaftler in der Kultur. Und das, was die Wissenschaft insgesamt über die Bedeutung des Schreiens herausgefunden hat, spricht sehr dafür, die Kultur des Schreiens zu pflegen. In möglichst kommunikativer Weise.