Ágnes Heller – Kritische Stimme gegen "Orbánismus"
Die Philosophin Ágnes Heller ist eine der wenigen Stimmen, die sich in Ungarn kritisch gegen die – von ihr sogenannte – „Tyrannei“ Viktor Orbáns äußert. Ágnes Heller spricht vom "Orbánismus", einem extremen politischen Gebilde, das die moderne Massengesellschaft erzeugt habe. Es stütze sich auf eine kleine Schicht reich gewordener Gefolgsleute, deren Loyalität erkauft sei. Ihre Massenwirkung entfalte diese politische Konstruktion durch eine extremistische Ideologie: Mit rassistischem Nationalismus und gezielter Feindbildproduktion würden Bedrohungsszenarien etabliert, vor denen der jeweilige Tyrann als starker Mann und Retter stilisiert werde.
Bereits vor dem Fall des Eisernen Vorhangs betrachtet Heller die Situation der europäischen Nationalstaaten skeptisch, denn für sie ist in diesen Staaten die Nation der Gott und die wichtigste Identität. Heller befasst sich eingehend mit der Geschichte und der Geistesgeschichte Europas. Sie betont immer wieder, dass die Idee eines einheitlichen Europas nur ein Traum bleiben kann. 2016 veröffentlicht sie ihr Buch: Von der Utopie zur Dystopie. In einem Gespräch mit Johannes Nichelmann in Deutschlandfunk Kultur warnt sie, dass alle Utopien in einer Tyrannei und Totalitarismus enden.
Wie Ágnes Heller sich zur Utopistin entwickelte
Die Entwicklung von Heller als einer Utopistin, in der Tradition von Marx hin zu einer skeptischen Verfechterin einer liberalen Gesellschaft wird verständlich, wenn man Ágnes Hellers Leben Revue passieren lässt.
Geboren wird sie am 12. Mai 1929. Als Kind jüdischer Eltern wächst sie in einer assimilierten, armen Familie in Budapest auf. Ihre Mutter ernährt die Familie als Hutmacherin. Der Vater ist Anwalt, beschäftigt sich aber mit mathematischen Problemen und Schriftstellerei. Er gibt seiner Tochter Ágnes die Liebe zur Kultur, zur deutschen Sprache und zum Nachdenken über ethisches Handeln mit auf den Weg. Als Anwalt hilft er Verfolgten nach 1933 und erst recht nach 1938 aus der Haft bzw. zur Flucht. Er selbst wird schließlich deportiert und kommt in Auschwitz um. Ágnes und ihre Mutter überleben im Ghetto die Erschießungskommandos der rechtsradikalen Pfeilkreuzler, der ungarischen Nationalsozialisten, die im Winter 1944/45 mehr als 3000 Menschen vom Ufer in die eisigen Fluten der Donau schießen.
Sprung in die Donau – gegen das Gefühl der Ohnmacht
Mehrmals erlebt Heller diese traumatische Szene, die prägend für ihr weiteres Denken und Handeln wird. Bis zur letzten Minute trotzt sie dieser ausweglosen Situation durch den selbstständigen Entschluss in den Fluss zu springen – eine Selbstermächtigung gegen das Gefühl der Ohnmacht.
Wie fast alle bedeutenden Denker und Denkerinnen dieser Epoche, beschäftigt sich Ágnes Heller mit den Verheerungen des 20. Jahrhunderts. Unter dem Eindruck der brutalen, stalinistischen Regierung Ungarns, zwischen 1948 – 53, behandelt die junge Philosophin aktuelle ethische Fragen anhand der Philosophiegeschichte. Bereits ihr erstes Buch – ihre Doktorarbeit – untersucht die Ethik des antiken Denkers Aristoteles, um der Frage nachzugehen, wie ein ethisch gutes, verantwortungsvolles Leben grundsätzlich aussehen kann und welche Tugenden, Erkenntnisse und Praktiken dafür notwendig sind.
Zweimaliger Rauswurf aus Partei und Universität
Der ungarische Volksaufstand im Jahr 1956 wird nach zehn Tagen niedergeschlagen. Georg Lukács, für den Heller arbeitet, ist nicht nur Professor für Ästhetik, sondern auch einer der geistigen Führer der ungarischen Revolution. Nach der Niederschlagung des Aufstands wird er verhaftet. Das Regime unter Kádár lässt ihn zwar nicht hinrichten, entzieht ihm aber seine Professur. Auch Ágnes Heller bleibt nur noch kurze Zeit, in der sie ein weiteres Buchkonzept, mit dem Titel: Von der Absicht zu den Konsequenzen über Platons Ethik schreibt. Darin befasst sie sich verklausuliert mit dem Stalinismus. 1958 führt das noch nicht veröffentlichte Manuskript zu ihrem Ausschluss aus Partei und Universität. Öffentlich wird sie als Verräterin und Volksfeindin beschimpft.
Budapester Schule um Georg Lukács
Mitte der 1960er Jahre beginnt in Ungarn eine vorsichtige Liberalisierung. Knapp zehn Jahre nach ihrem Ausschluss werden Georg Lukács und seine Schüler und Schülerinnen rehabilitiert und an die Akademie zurückgerufen. Sie waren trotz permanenter Überwachung und Bespitzelung zu einem engen Kreis zusammengerückt: Der Budapester Schule.
In den Jahren nach ihrer Rehabilitierung Mitte der 1960er Jahre veröffentlicht Heller ihr damals wohl berühmtestes Buch: Der Mensch in der Renaissance. Daneben publiziert sie eine ganze Reihe von Schriften, die sich mit dem Alltagsleben des Menschen, seiner Reproduktion und seinen individuellen Bedürfnissen beschäftigen. Sie analysiert die Verbindung zwischen dem marxistischen Geschichtsbegriff und dem Einzelnen als Teil der Masse. Letztlich geht es darum, eine „humanistische“ Vision von Marx aufzuzeigen, die frei von Ideologie und nahe an den Problemen des alltäglichen Lebens war.
Budapester Schule glaubt nicht mehr an den Sozialismus
1973 wird Heller zum zweiten Mal aus der Partei und der Universität ausgeschlossen und erhält Berufsverbot. Die Gruppe ist auch philosophisch an einen Wendepunkt gelangt. Die Logik der „großen Erzählung“ ist an ihr Ende gekommen. Der Kreis der Budapester Schule glaubt nicht mehr an den Sozialismus und an einen „dritten Weg“, sondern daran, dass sie eine systematische Dekonstruktion des Marxismus vorgenommen haben und ihn nun nicht mehr brauchen.
Nach Australien ins Exil
Ágnes Heller und ihr Mann Ferenc Fehér reisen mit ihrem Sohn Gyuri 1977 nach Australien aus, wo Heller an der Universität in Melbourne eine Stellung als Philosophielehrerin antritt. Hier genießt sie eine nie gekannte Freiheit der Forschung. Sie lernt Englisch und schreibt in den neun Jahren, die sie hier verbringt, zahlreiche Bücher. Sie zieht eine Bilanz ihrer ungarischen Jahre und setzt sich mit den Erfahrungen im Sowjetsystem auseinander. Gleichzeitig erfährt sie, welche Kreise ihre Bücher außerhalb des sowjetischen Einflussbereichs ziehen.
Das Prinzip der Verantwortung jedes einzelnen für seine Haltung und seine Handlungen – auch für die eigenen Bücher, sowie für die Konsequenzen aus der Lektüre – führt Heller immer wieder auf Kant zurück. Dessen Prämisse, wonach der aufgeklärte Mensch sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien muss, nimmt sie in verschiedenen Abhandlungen auf und verlangt von jeder und jedem eigenes Reflektieren und entsprechendes Handeln.
New York: Auseinandersetzung mit der feministischen Bewegung
Der Ruf an die New School for Social Research in New York 1986, an der sie dann über 20 Jahre Philosophie lehrt, ermöglicht ihr noch einmal neue Impulse. Ihre Auseinandersetzung mit der amerikanischen, feministischen Bewegung wie mit der Bürgerrechtsbewegung zeugt davon, dass sie sich nie in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm zurückgezogen hat, sondern immer im Dialog mit ihren Mitmenschen stand. In den New Yorker Jahren befasst sich Heller intensiv mit der Moderne und deren Weiterentwicklung zur Postmoderne. Sie verfasst Bücher, Essays und Abhandlungen zu kulturellen, biopolitischen und ästhetischen Themen, schreibt über biblische Figuren ebenso wie über das Komische.
Hellers letztes Buch behandelt den Begriff der Liebe
Francesco Comina, Autor und Gründer des Friedenszentrums Bozen, hat gemeinsam mit der Autorin Genny Losurdo und Ágnes Heller ihr letztes Buch verfasst: Il demone del amore, auf italienisch – Der Dämon der Liebe. Darin stellt Heller den Liebesbegriff von Platon bis in die Gegenwart dar.
Hellers Beiträge werden in diverse Sprachen übersetzt. Sie selbst reist bis 2019 unablässig rund um den Globus, nicht nur für internationale Gastprofessuren, Gastvorträge und viele Auszeichnungen. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sie auch wieder einen Wohnsitz in Budapest.
Ágnes Heller – politische Stimme in Ungarn
Ihre Bücher und Vorträge finden ein großes Publikum. Ihre politischen Vorschläge für eine pluralistische Gesellschaft in Ungarn stoßen jedoch bei den Anhängern der stärksten Partei, Fidesz, des Ungarischen Bürgerbundes und ihrem Führer Viktor Orbán zunehmend auf Ablehnung. Heller sieht sich erneut Anfeindungen und Diffamierungen ausgesetzt, lässt sich aber bis zu ihrem letzten Tag nicht einschüchtern.
Am 19. Juli 2019 geht Ágnes Heller schwimmen; sie tut das mit ihren 90 Jahren fast täglich und gerne stundenlang. Sie schwimmt weit hinaus auf den Balaton, den Plattensee – und kehrt nicht zurück.