In unserem Darm tummeln sich rund 2 Kilogramm Bakterien. Bis zu 160 unterschiedliche Bakterienstämme können in unseren Darmschlingen wohnen. Diese Mitbewohner haben nicht nur Einfluss auf unsere Gesundheit, sondern auch auf unsere Hirnfunktionen. Darüber forscht der Freiburger Neuropathologe Marco Prinz. Denn der Darm nährt das Hirn.
Die Darmbakterien spalten unsere Nahrung in Nährstoffe auf und setzen dabei Substanzen frei, die bis ins Gehirn wandern – und dort von Immunzellen aufgenommen werden. Die Arbeitsgruppe von Marco Prinz am Universitätsklinikum Freiburg konnte zeigen: Bei Mäusen, die keine oder nur wenige Bakterienstämme im Darm hatten, funktionieren auch die Abwehrzellen im Gehirn nicht mehr richtig.
Abwehrzellen fehlt Propionsäure und andere Fettsäuren
Die Abwehr oder auch Immunzellen, die Mediziner gerne Mikrogliazellen nennen, sind sehr aktiv im Hirn. Wenn die Darmbakterien jetzt nicht ausreichend Bakterienstoffwechselprodukte liefern, werden die Mikrogliazellen ausgehungert und verkümmern. Wichtig für ein gesundes Gehirn ist offenbar, dass die Bakterien ausreichend Ballaststoffe serviert bekommen. Denn die zentrale Aufgabe dieser Darmbakterien ist es, aus den nicht verdaubaren Ballaststoffen Fettsäuren abzuspalten: kurzkettige Fettsäuren wie zum Beispiel Essig-, Butter- oder Propionsäure.
Ein erkranktes Hirn kann sich wieder erholen
Hirnkranke Mäuse erhielten ein Gemisch von Fettsäuren ins Trinkwasser gemischt. Darauf kamen ihre Immunzellen wieder in Schwung und das Gehirn der Nager erholte sich. Mit diesem Erfolg hatten nicht einmal die Forscher selbst gerechnet. Nun setzt die medizinische Entwicklung darauf, diese Erfolgsstory auf den Menschen übertragbar zu machen.
In Bochum setzen Wissenschaftler darauf, dass die von Darmbakterien freigesetzten Fettsäuren auch Menschen mit Multipler Sklerose helfen können. Bei dieser Autoimmunerkrankung zerstört sich das Nervensystem des Körpers selbst. Im Blut von MS-Patienten haben die Ärzte nun einen Mangel an Propionsäure gefunden. Die Fettsäure fehlt im Blut, weil der Darm offenbar nicht genügend davon produziert. Denn auch im Darm von MS-Patienten fanden die Ärzte eine echte Bakterienflaute.
Neurologische Patienten haben zu wenig Vielfalt im Darm
Über 1000 Stämme von Darmbakterien sind bekannt, ein gesunder Mensch hat etwa 160 verschiedene. Bei Menschen mit neurologischen Erkrankungen sind einige davon verschwunden. Zum Beispiel haben Menschen, die an Alzheimer oder an Parkinson erkrankt sind, deutlich weniger Bakterienstämme im Darm. Damit wird die Produktion der wichtigen Fettsäuren eingeschränkt. Nicht klar ist bisher, ob das die Ursache oder das Resultat der Erkrankung ist. Die Bochumer Neurologen simulierten die Tätigkeit der Darmbakterien, indem sie 100 Patienten, die unter Multipler Sklerose leiden, ein Salz namens Propion gaben, dass sich im Darm zu Propionsäure wandelt. Die Patienten fühlten sich darauf deutlich fitter, energiegeladener, wacher - erlebten eine Art Aufschwung und waren weniger anfällig für Infekte.
Mehr Propionsäure kann das Immunsystem stärken
Nach 2 wöchiger Einnahme von Propionsalz konnten die Ärzte im Blut der Probanden eine signifikante Zunahme der Immunzellen feststellen – und gleichzeitig verminderten sich die Entzündungszellen. Obwohl die Studie in Bochum bereits abgeschlossen ist, nehmen 50 der hundert Probanden das Propionsalz weiter. Auch der Studienleiter, Dr. Ralf Gold, Neurologe am St. Josef-Hospital in Bochum, hat das Propionsalz genommen. Er versichert, dass außer Blähungen keine Nebenwirkungen aufgetreten seien.
Bis in die 80er Jahre haben viele Menschen dieses Salz täglich zu sich genommen. Denn das Propionat wurde geschnittenem Brot zugesetzt, um Schimmel zu verhindern. 1988 wurde das in Deutschland aber verboten. Versuche mit Ratten hatten eine erhöhte Krebsgefahr vermuten lassen. Dieses Risiko konnte aber in weiteren Versuchen nicht bestätigt werden. Nach neuestem EU-Recht ist Propionat wieder erlaubt.
Forscher raten Patienten, das Propionsalz einfach auszuprobieren
Die Bochumer Forscher raten interessierten Patienten, das Salz einfach auszuprobieren. Bisher gibt es noch keine klinischen Daten zur Wirksamkeit, doch die Studien dazu sollen bald folgen. Grundsätzlich gilt jedoch, dass alle Menschen ihre Darmbakterien hegen und pflegen sollten. Und darauf können wir mit der Ernährung Einfluss nehmen. Abwechslungsreiche Kost ist wichtig und ballaststoffreiches Essen. Denn daraus können Darmbakterien die wichtigen kurzkettigen Fettsäuren herstellen.
SWR 2018