Der Darm hat ein feines Nervenkostüm und unterhält beste Kontakte nach oben, zum Gehirn. Er ist auch ein höchst sensibler Zeitgenosse, empfindlich und leicht störbar und kann deswegen recht unangenehm werden.
Reizdarm ist Reizwort für Ärzte
Allein sind die Betroffenen mit der Diagnose Reizdarm nicht. Etwa jeder Siebte bis Zehnte soll darunter leiden, weltweit. Frauen häufiger als Männer. Warum das so ist, ist noch nicht geklärt. Der Reizdarm, Fachbegriff Reizdarmsyndrom, ist für Ärzte häufig auch ein Reizwort. Denn die Erkrankung bringt sie an ihre Grenzen.
Die Medizin kann einen Reizdarm mit ihren Instrumenten nicht sehen, nicht messen und deswegen nicht beweisen. Am Ende hören Betroffene dann oft: „Wir finden nichts – Sie haben nichts“. Prof. Winfried Häuser, der den Schwerpunkt Psychosomatik am Klinikum Saarbrücken leitet, bringen solche Formulierungen in Rage. Denn eine Ausschlussdiagnose von Stoffwechselerkrankungen und Entzündungen ist zugleich eine Positivdiagnose, wenn die Kriterien für Reizdarm erfüllt sind.
Das Reizdarmsyndrom ist eine anerkrannte Krankheit, Diagnoseschlüssel K58 im Katalog der Krankheiten, dem ICD 10. Es ist eine funktionelle Erkrankung. Das heißt im Klartext: Nichts zu finden und trotzdem krank. Das ist ungewöhnlich, aber auch nicht ganz unüblich in der Medizin.
Facettenreiche Welt des Bauchhirns
Der Darm beginnt am Magenpförtner und ist in den schlankeren Dünn- und den breiteren Dickdarm unterteilt. Ein äußerst komplexes Organ und noch nicht abschließend erforscht. Im Darm sind aber auch 70 Prozent unserer Immun-, also Abwehrzellen zu Hause. Das Immunsystem wurzelt sozusagen im Darm. Würde man die Darmoberfläche auseinanderfalten, käme man auf die Größe von 30 bis 40 Quadratmetern.
Der Darm hat seinen eigenen Kopf
Und nicht zuletzt: Der Darm hat Nerven. Ein eigenes feines Nervensystem, das in ihn eingefaltet ist. 100 Millionen Neuronen. Sie bilden das sogenannte enterische Nervensystem. Das Bauchhirn. Sie produzieren alle möglichen Botenstoffe, die vermutlich sogar unsere Stimmungslagen beeinflussen. Der Darm hat "seinen eigenen Kopf" und ist eine Welt mit vielen Unterwelten. Die Frage für die Wissenschaft ist, auf welcher Ebene der Stress im Darm beginnt.
In vielen Fällen wird die harmonische Wohngemeinschaft der verschiedenen Darmbakterien gestört: Nach einer Salmonelleninfektion steigt das Risiko, einen gereizten Darm zurück zu behalten, um das Achtfache. Und auch nach der EHEC-Epidemie vor einigen Jahren hatte jeder vierte Infizierte ein Reizdarmsyndrom. Auch andere bakterielle Infekte kommen als Auslöser infrage.
Einfluss von Angst und Stress auf das RDS
Aber eben nicht jeder bekommt nach einem Magen-Darm-Infekt oder einer Antibiotika-Therapie anhaltende Probleme. Der Psychosomatiker Winfried Häuser aus Saarbrücken kennt weitere Faktoren, die ein Reizdarmsyndrom – abgekürzt RDS – auslösen: bereits bestehende Ängstlichkeit und Stress zum Zeitpunkt des Infekts.
Die Nahurn, die in den Darm gelangt, beeinflusst ebenfalls sein Befinden. Ein wichtiges Thema bei Reizdarm sind darum FODMAPs (fermentable oligo-, di-, monosaccharides and polyols). FODMAP steht für eine Reihe von, vereinfacht gesagt, gärungsfreudigen Lebensmitteln, die im Darm für Unruhe sorgen können.
Es gibt bestimmte Nahrungsmittel, die bei jedem Menschen – ob gesund oder Reizdarm – nicht vom Dünndarm aufgenommen werden und in den Dickdarm gelangen. Der Dickdarm ist das Revier der Darmbakterien, und deren Aktivität verursacht bestimmte Gase und Verdauungsbeschwerden. Eine recht komplizierte Angelegenheit.
Low-FODMAP-Ernährung hilft dem nervösen Darm
Inzwischen hat die Low-FODMAP-Ernährungsform eine deutliche Empfehlung in der Therapie-Leitlinie. Der Vorteil ist dabei noch ein weiterer: Man kann selbst etwas tun. Sich nicht als ausgeliefert erfahren, sondern als handelnd und kompetent. Die Psychologie nennt das „Selbstwirksamkeit“. Und diese zu erlernen, ist auch bei Darmquerelen sehr aussichtsreich.
Denn wer ihn einmal hat, den nervösen Darm, der wird ihn nicht mehr los. Aber er kann ihn besänftigen. Runterfahren. Beruhigen. Gelassenheit ist das Milieu, in dem sich der Darm wohlfühlt. Darum wird Reizdarm-Betroffenen auch entspannendes Yoga empfohlen. Hier kommt die Darm-Hirn-Achse ins Spiel, die gerade intensiv erforscht wird. Denn Bauch und Kopf unterhalten eine enge Verbindung.
Darmhypnose wirkt "Fake News" vom Darm an das Gehirn entgegen
Überwiegend ist es so, dass der Darm Informationen an das Gehirn sendet. Der Darm schickt sogar Botenstoffe wie Serotonin oder auch Stresshormone nach oben. Als Informations-Highway gilt der Vagusnerv, der vom Darm bis in den Kopf geht. Und wenn der Darm sich einmal aufs Nörgeln verlegt hat, gibt’s Probleme. Denn normale Reize aus dem Darm können im Gehirn als Schmerzen ankommen. Fake News von unten sozusagen.
Dagegen gibt es die medizinische Darmhypnose. Sie geht zurück auf den britischen Gastroenterologen Peter Whorwell. In 12 Hypnosesitzungen sollen Betroffene lernen, wieder die Oberhand über ihren Darm zu gewinnen und nicht mehr auf dessen Paniksignale hereinzufallen. In diesem gelockerten Zustand ist der Mensch offen für Veränderungen. Inzwischen ist die Darmhypnose in zahlreichen wissenschaftlichen Studien erforscht, das Verfahren führt bei 30 bis 40 Prozent der Betroffenen zu einer relevanten Symptomverbesserung.
Trotzdem wird die medizinische Hypnose nur von wenigen Praxen angeboten. Und so bleibt all denjenigen, denen der Darm den Alltag erschwert, nur die Therapie in Eigenregie. Inzwischen sind verschiedene CDs oder Audiodownloads auf dem Markt.