Buch-Tipp

Wie uns etwas verloren ging: „Das Echo der Zeit“ von Jeremy Eichler

Stand
Autor/in
Matthias Nöther
Künstler/in
Jeremy Eichler

Manchmal sieht man Dinge nur, wenn man mit Abstand auf sie blickt. Von der Geschichte und der Musikgeschichte der Weltkriege hat der US-Musikhistoriker Jeremy Eichler, Musikkritiker des Boston Globe, sowohl einen räumlichen als auch zeitlichen Abstand: Er ist 1974 geboren. Sein Buch „Time’s Echo“ liegt nun in der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Das Echo der Zeit“ vor.

„Geiste Tradition“

Der Untertitel von Jeremy Eichlers Buch lautet in deutscher Übersetzung: „Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege“. Dieses Leben wird mitunter beschrieben durch eine Anekdote wie diese: Stefan Zweig, der vor 1933 erfolgreichste österreichische Autor, investierte seine enormen Einnahmen vor allem in Devotionalien der Musikgeschichte – sozusagen in Reliquien:

Stefan Zweig
Stefan Zweig sammelte nicht nur bedeutende Gegenstände von Komponisten, sondern hatte auch einige Bekanntschaften mit namhaften Komponisten. So schuf er das Libretto zu Strauss' „Die Schweigsame Frau“.

Im Buch von Jeremy Eichler scheint es völlig plausibel, dass ein Geistesmensch wie der jüdische Autor Zweig seine Wohnung in den Jahrzehnten zuvor mit einer musikhistorischen Aura deutschen Akzents ausgestattet hatte. Zweig lebte in einer geistigen Tradition, auch wenn er kein Musiker war. Das Staunen über diese Tradition aus der Sicht eines Amerikaners durchzieht Eichlers Buch.

Musikalische Splitter

Deutschland als Idee, die in Musik aufgehoben war, bis die Nazis diese Idee pervertierten – indem sie zum Beispiel Komponisten von Mendelssohn bis Mahler verboten. Strukturiert wird das Buch durch die tragischen Lebenswelten von Arnold Schönberg, Richard Strauss, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten.

Es geht um die Trümmer und die Splitter jenes ideellen, in der Musik aufgehobenen Deutschlands. Es sind Splitter, die sich, un- oder willentlich, in Werk und Persönlichkeit dieser Komponisten eingruben. 

Schwarz-Weiß-Aufnahme des betagten Richard Strauss an seinem Schreibtisch.
Richard Strauss an seinem Schreibtisch. Bis heute fällt es den Erben schwer, Dokumente über das Leben des Komponisten preiszugeben.

Sei es Benjamin Brittens widersprüchlicher Pazifismus oder Richard Strauss’ selbstgerechte Nazi-Anbiederung: Der Amerikaner Eichler stößt manchmal auf eine unheimliche Gegenwart der Vergangenheit, so in Garmisch-Partenkirchen:

Zweckentfremdete Musik

Aber Jeremy Eichler, geboren 1974, hat auch den Abstand, um auf Strauss’ Denken und Handeln, auf seine Attitüde des Nietzscheanischen Übermenschen sehr analytisch zu blicken. Ausgangspunkt ist ein musikalischer Motivsplitter in Strauss’ resignativem Streicherstück „Metamorphosen“ aus dem Jahr 1945.

„Alle Menschen werden Brüder“: Deutsche Musik war seit dem neunzehnten Jahrhundert bis 1945 nie nur Musik, nie frei von Humanismus als universeller Idee – das musste auch der alte Strauss noch erfahren. Und diese Tatsache wirkte weit über Deutschland hinaus. Selbst Schostakowitschs dunkle Dreizehnte Sinfonie über das Massaker der Deutschen Wehrmacht im ukrainischen Babi Jar stammte letztlich von der musikalischen Poetik des deutschen Musikheros Beethoven ab. 

Dmitri Schostakowitsch in Uniform und mit Helm blickt ernst in die Kamera
Komponist im Krieg: Dmitri Schostakowitsch während der Leningrader Blockade im Jahr 1941.

Verlorengegangener Sinn für humanistische Bedeutung

Und noch einmal recherchiert Jeremy Eichler so obsessiv, dass sich historischer Abstand und Nähe auf schockierende Weise treffen. Eichler fährt noch kurz vor Putins Angriff zu dem Ort, wo das Sowjet-Regime jede nur erdenkliche Spur zur deutschen Untat an ukranischen Juden verwischen ließ – die Schlucht Babi Jar wurde buchstäblich aufgefüllt.

Jeremy Eichlers „Das Echo der Zeit“ richtet sich an musikalisch wie historisch Interessierte. Die sehr gute Übersetzung stammt von Dieter Fuchs.

Das Buch stößt uns, ohne es zu betonen, auf eine Tatsache: Im Land Beethovens selbst ist etwas verloren gegangen – und das ist nicht unbedingt die Musik selbst: Es ist der Sinn für die humanistische Bedeutung, die sie in diesem Land einmal hatte. Da können wir noch so viele Mendelssohn-Denkmäler rekonstruieren.

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Autor/in
Matthias Nöther
Künstler/in
Jeremy Eichler