Interview mit Anna Vinnitskaya

Ein Leben ohne Konzerte kann ich mir nicht vorstellen

Stand

Nicht einmal eine Woche vorher wusste Anna Vinnetskaya, dass sie bei den Kammermusikkonzerten mit Musikern des SWR Symphonieorchesters in Freiburg, Baden-Baden und Stuttgart einspringen würde. Was das für sie bedeutet, wie sie ihre Aufgaben als Pianistin, Hochschullehrerin und Mutter bewältigt, verriet sie Constanze Stratz, die sie bei den Proben im Freiburger Konzerthaus besucht hat.

Frau Vinnitskaya, Sie springen dankenswerter Weise ein beim Kammerkonzert mit Musikern des SWR Symphonieorchesters. Vor welche besonderen Herausforderungen stellt sie diese Situation als Musikerin?

Anna Vinnitskaya
Anna Vinnitskaya vor dem Freiburger Konzerthaus

Ich bin nicht zum ersten Mal eingesprungen in meinem Leben, und in diesem Fall freue ich mich besonders, weil ich im Dezember schon mit dem SWR Symphonieorchester eine kleine Tour mit drei Konzerten gemacht habe. Umso schöner ist es jetzt, die gleichen Musiker wieder zu treffen und mit ihnen zu musizieren. Deshalb habe ich mich wahnsinnig gefreut, als ich die Anfrage letzte Woche bekommen habe.

Letzte Woche erst? Das setzt einen doch bestimmt enorm unter Druck, oder?

Ja, ein bisschen schon. Ich kenne das Klavierquintett op. 44 von Robert Schumann bereits, insofern ist es jetzt nicht so anstrengend, wie wenn man ein Stück ganz neu einstudieren muss.

Sie werden auch Schumanns Kinderszenen interpretieren. Worin besteht für Sie der Reiz, ein relativ einfaches – oder besser: ein vermeintlich einfaches – Werk im Konzert zu spielen?

Ich glaube, es ist falsch zu denken, dass dieses Stück für Kinder komponiert wurde. Schumann selbst hat in seinem Vorwort geschrieben, dass er diese wunderbare Musik für Erwachsene komponiert hat als Erinnerung an deren Kindheit. Und es ist auch falsch zu denken, dass dieser kleine Zyklus zu einfach ist. Natürlich, da sind nicht so viele Noten wie in Carnaval oder in Kreisleriana oder in der Humoreske. Man kann sich nicht hinter den vielen Noten verstecken, aber trotzdem schön und tiefsinnig zu spielen, das ist die Herausforderung.

Sie stammen aus Russland aus der Schwarzmeerregion. Spüren Sie eine besonders enge Verbindung zu russischen Komponisten?

Wenn ich russische Musik spiele oder einstudiere, dann dauert es bei mir normalerweise nicht so lang, die Musik zu verstehen und zu lernen. Ich habe dann einfach Glück, dass mir diese Musik sozusagen im Blut liegt.

In Deutschland gibt es eine Klavierschule für Kinder, die heißt "Die russische Klavierschule". Was ist damit gemeint?

Anna Vinnitskaya
Anna Vinnitskaya freut sich auf ein Wiedersehen mit den SWR-Musikern

Ich weiß, dass diese Klavierschule sehr populär hier in Deutschland ist. Sie basiert auf der Klavierschule von Alexander Nicolaev. Ich habe aber nach einer ganz anderen Schule gelernt in Russland, das war die Klavierschule von Anna Artobolevskaya. Sie war damals in Moskau eine der berühmtesten Pädagoginnen für Kinder, sie hat auch meinen Lehrer, Evgeni Koroliov, unterrichtet.

Man spricht trotzdem von "DER russischen Klavierschule". Was ist das, was kennzeichnet diese Art, an das Klavierspielen herangeführt zu werden?

Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube nicht an die sogenannte "russische Schule". Damals gab es solche großen Lehrer wie Konstantin Igumnov oder Heinrich Neuhaus – und der war eigentlich sogar Deutscher! Er hat in Moskau unterrichtet, und meiner Meinung nach war das Geheimnis dieser Schule, am Klavier zu singen. Und das hat mir auch mein Professor in Russland beigebracht. Manchmal haben wir die ganze Unterrichtszeit darauf verwendet, unterschiedliche Anschläge am Klavier auszuprobieren. Er hat versucht mir zu zeigen, wie man die Taste herunterdrücken muss, um sie wirklich zum Singen zu bringen.

In wieweit sind Kenntnisse aus den anderen Künsten, also der bildenden Kunst oder der Literatur, wichtig für das Klavierspiel?

Anna Vinnitskaya
"Ich glaube nicht an die sogenannte 'russische Schule'."

Das ist sehr individuell. Für mich ist das enorm wichtig. Wenn ich ein Stück spiele oder einstudiere, dann habe ich Bilder aus Büchern, die ich gelesen habe, vor meinem inneren Auge, das hilft mir. Aber das ist wie gesagt, sehr, sehr persönlich. Kann sein, dass das bei den anderen Künstlern anders ist. Das Memorieren von Werken läuft bei mir sehr intuitiv, weil ich schon seit mehr als 25 Jahren Klavier spiele. Deswegen kann ich jetzt nicht so genau sagen, welches der beste Weg ist, die Noten auswendig zu lernen. Aber ich bin der Überzeugung, dass auch die Musik eine Sprache ist. Die Schauspieler haben auch unglaublich schwierige Rollen und Texte zu lernen, die über Stunden andauern. Und so ist das auch bei uns Solisten. Die Noten sind quasi unserer Text, unsere Sprache. Wir lernen sie wie Schauspieler ihren Text lernen.

Wenn Sie sich ein neues Klavierwerk erarbeiten, wie viel Hintergrundwissen eignen Sie sich an, oder lassen Sie ausschließlich die Noten sprechen?

Ich habe mittlererweile eine große Erfahrung. Wenn ich ein neues Stück lerne, dann kenne ich normalerweise schon die Tonsprache des Komponisten, und deswegen wird es mit der Zeit einfacher, die neuen Stücke einzustudieren. Und dadurch, dass ich an der Musikhochschule in Hamburg unterrichte, spiele ich oft auch die Stücke, die meine Studenten gespielt haben. Das ist dann einerseits einfacher, weil ich das Stück schon fast auswendig kenne, andererseits ist es schwerer, weil ich die Interpretationen von meinen Studenten schon im Kopf habe. Die muss ich dann erst einmal löschen und von vorne anfangen.

Das klingt so, als ob sie sich nicht unbedingt Aufnahmen von anderen Pianisten anhören, wenn sie an ein neues Stück herangehen.

Überhaupt nicht. Dadurch, dass ich übe, Konzerte spiele, mich mit den Studenten auch immer mit Musik beschäftige, höre ich zuhause normalerweise keine Musik mehr.

Sie stammen aus einer sehr musikalischen Familie, ihre Eltern sind beide Pianisten, und sie erhielten den ersten Klavierunterricht von ihrer Mutter. Ist das ein Vorteil oder eher eine Bürde?

Jein. Einerseits habe ich die ganze Zeit zu Hause Musik gehört, auch meine Eltern haben unterrichtet, und die Studenten kamen zu uns nach Hause. Andererseits habe ich mich oft nicht so wohl gefühlt, wenn ich geübt habe, denn ich wusste, meine Eltern hören zu – ich war nicht so frei. Insofern war das eher ein Nachteil.

Und war das für Ihre Eltern dann quasi obligatorisch, dass sie Pianistin werden?

Anna Vinnitskaya
Erfolgsrezept: "Am Klavier singen"

Eigentlich müssen sie das meine Eltern fragen. So, wie meine Mutter mir das jetzt sagt, wollten sie ausprobieren, wie ich mich entwickle. In den ersten zwei oder drei Jahren habe ich sehr große Fortschritte gemacht. Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Zeit: Ich wollte nicht üben, aber ich wollte unbedingt konzertieren. Und dadurch habe ich die Stücke blitzschnell gelernt, aber die Qualität hat natürlich sehr gelitten. Irgendwann habe ich von selbst verstanden, dass das so nicht geht und dass ich sehr viel Zeit investieren muss, um die Stücke wirklich bis zu einem gewissen Punkt zu bringen, um sie dann auf der Bühne präsentieren zu können.

Haben sie ein Rezept dafür, wenn Kinder zwar Klavier spielen, aber nicht üben wollen?

Zwingen! Das ist einfach so. Als Eltern oder als Lehrer muss man merken, ob das Kind talentiert ist und eine spezielle Begabung dafür hat. Man muss sich fragen: Hat es das Zeug dazu, Musik professionell zu betreiben. Und wenn ja, dann muss man diese Kinder zwingen. Wenn ein Kind aber nicht so begabt ist, dann ist es auch sehr, sehr wichtig, dass es diesen Druck nicht spürt, damit es trotzdem mit Spaß Musik machen kann. Schließlich brauchen wir Musiker in der Zukunft auch noch Zuhörer! Man sollte die Kinder also in zwei Gruppen aufteilen: Die, die wirklich was können und sehr große Fortschritte machen – und da muss man leider schon so ein bisschen Druck ausüben und sie im Zweifel zum Üben zwingen. Und der anderen Gruppe muss man unbedingt den Spaß an Musik vermitteln. Manchmal hilft es auch, gemeinsam zu musizieren, quasi schon in der Kindheit ein Kammermusikensemble zu haben und Quartett oder Quintett zu spielen. Das macht den Kindern meistens Spaß.

Nicht umsonst spricht man ja auch von der "Einzelhaft am Klavier". Klavier ist ein Instrument, bei dem man zunächst einmal sehr auf sich gestellt ist.

Anna Vinnitskaya
"Ich wollte nicht üben, aber ich wollte unbedingt konzertieren."

Ja, aber das Klavier ist so groß und es kann so unterschiedlich klingen. Ich glaube, wir Pianisten leiden nicht darunter. Ich glaube, dass es für Kinder einfach schöner ist, wenn man einen Partner hat, mit dem man musizieren kann. Ich bin ja sehr, sehr begeistert, dass die Deutschen so gerne Kammermusik spielen, auch auf Amateurniveau. Das ist so etwas Schönes. Auch Hauskonzerte habe ich, als ich noch in Russland gelebt habe, so nicht gekannt. Jetzt kenne ich viele Menschen, die einfach so aus Spaß zu Hause Konzerte machen, und dann kommen Bekannte, Freunde und Verwandte, die zuhören. Das ist wunderbar.

Im Alter von 18 Jahren haben Sie sich entschieden, ihre Ausbildung in Deutschland fortzusetzen. Das war ein großer Schritt für Sie, oder?

Genau. Das war nicht leicht für mich, hierher zu kommen, ohne die Sprache zu können. Ich war nicht gerade selbstständig, als ich hierher kam, und hier war ich auf mich alleine gestellt, ohne meine Eltern. Ja, das war eine schwierige Zeit. Es gab Momente, da dachte ich, dass ich es nicht schaffe und zurück möchte, ich fühlte mich sehr einsam. Heute würde ich sagen: Hamburg ist mein Zuhause geworden.

Acht Jahre später, also 2009, waren Sie bereits Professorin an der Hamburger Musikhochschule und damit eine Zeit lang die jüngste Professorin Deutschlands, mit gerade 26. Wie ist das, wenn man nur ein paar Jahre älter ist als seine Studenten?

Am Anfang war das nicht leicht, ich hatte einfach nicht genügend Erfahrung. Und inzwischen geht es super. Ich glaube, es ist sehr wichtig, zu den Studenten einen persönlichen Zugang zu finden. Am Anfang war ich vielleicht zu streng, aber manche brauchen ein Lob, manche brauchen Druck, das ist sehr unterschiedlich.

Anna Vinnitskaya

Sie sind international als gefragte Pianistin unterwegs, sind Professorin in Hamburg, haben zwei Kinder – wie schaffen Sie das alles?

Ich weiß nicht, ich versuche einfach nicht daran zu denken. Ansonsten, wenn ich anfange zu denken, dann geht es mir nicht so gut damit. Ich versuche natürlich, mit meiner Familie viel Zeit zu verbringen. Wenn ich jetzt daran denke, wie es in der Vergangenheit war, dann war natürlich einiges anders. Damals habe ich mir oft die Städte angeschaut, im Hotel viel Zeit verbracht. Jetzt versuche ich, wenn ich die Konzerte spiele und auf der Konzertreise bin, sehr viel zu üben, weil ich zu Hause dann lieber Zeit mit meinen Kindern verbringe. Da musste ich umdenken und mich anders organisieren. Mittlerweise geht es aber. Da steckt einfach viel Logistik drin. Und dank meinem Mann schaffen wir das auch.

Haben Sie noch musikalische Träume?

Ich wünsche mir, dass ich eine ernsthafte Musikerin bleiben kann und mich immer weiter entwickle. Und natürlich freue mich darauf, mit namhaften Orchestern oder guten Musikern zu spielen. Ein Leben ohne Konzerte kann ich mir nicht vorstellen. Und die Studenten machen mir auch sehr viel Spaß. Sie bringen mich auf ihre Art weiter. Manchmal denke ich: "Wow, das ist ja etwas ganz Neues, etwas sehr Interessantes". Darüber freue ich mich jedes Mal, wenn ich in der Hochschule bin und unterrichte.

Fotos: Anja Limbrunner

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SWR