Im Vergleich zu Robert Schumann oder Frédéric Chopin ist Tschaikowskys Klaviermusik im Repertoire unterrepräsentiert. Doch allmählich scheint hier ein Umdenken einzusetzen. Der kanadische Pianist Bruce Liu, der 2021 den Chopin-Wettbewerb gewann, hat jetzt für die Deutsche Grammophon den Klavier-Zyklus „Die Jahreszeiten“ aufgenommen.
Tschaikowskys Klavierwerk ohne übertriebene Selbstdarstellung
Sanft lässt Pjotr Tschaikowsky im Juni seiner „Jahreszeiten“ die Schiffe schaukeln. Der kanadische Pianist Bruce Liu gestaltet diese zarte, liedhafte Bakarole wie eine Meditation: ohne virtuose Selbstdarstellung, weit entfernt vom Rampenlicht.
Liebevoll verfolgt er die melodischen Linien, beobachtet, wie sie sich langsam entfalten und verändern. Auf jede Nuance legt er Wert und erprobt subtil alle Möglichkeiten, die in dieser Miniatur enthalten sind. Sein Spiel gleicht einem Nachdenken über diese Musik, es kommt ganz aus dem Inneren heraus.
Keine seelenlose Maschinenmusik
Aber natürlich kann Bruce Liu auch ganz anders: Der August, der den Untertitel „Ernte“ trägt, ist bei Tschaikowsky eine rasante Toccata. Liu musiziert sie dynamisch und extrovertiert. Furios und schwerelos folgt er der beweglichen Metrik mit ihren ständig wechselnden Impulsen und verteilt souverän die Akzente und Gegenakzente.
Der Klavierklang bleibt bei allem Tempo warm und volltönend. Bruce Liu schlägt nicht die Tasten, er traktiert sie nicht, sondern berührt sie sanft. Sein Ideal ist nicht die seelenlose Maschinenmusik. Tschaikowsky bleibt bei ihm ein Lyriker, auch wenn er virtuos auftrumpft.
Liu arbeitet das Radikale in Tschaikowskys Musik heraus
Besonders beeindruckend gelingen Liu die „Weißen Nächte“ im Mai. Diese Musik strebt ins Licht, ins Helle. Ruhevoll entfaltet Bruce Liu die Melodielinien. Mit fast schon provozierender Langsamkeit spürt er ihnen nach und lässt sie schließlich ins Leere laufen.
Liu musiziert die Stille und die Pausen ganz bewusst mit. Er lotet die Resonanzen und Farbmischungen des Klaviers aus und erzielt damit ungewöhnliche Klangzustände. Mal lässt er ein Blasinstrument oder Glocken anklingen und dann wieder eine Cellokantilene. Und er splittet die Akkorde auf, lässt einzelne Töne isoliert nachklingen.
Mit dieser radikalen Interpretation zeigt Bruce Liu, dass sich Tschaikowsky schon 1876 an eine Grenze wagte, die erst Franz Liszt in seinen späten Klavierwerken wieder berühren sollte.
Effekthascherei ist Liu fremd
Ein klassisches Genrestück dagegen ist der September. Hier bläst Bruce Liu nun zur Jagd, mit Hörnerschall und Fanfaren von nah und fern. Aber er belässt es nicht bei diesem äußeren Eindruck, Effekthascherei ist ihm fremd.
Liu fasst den Satz beinah wie abstrakte Kunst auf, mit wechselnden rhythmischen Patterns, klanglichen Schichtungen und gegenläufigen Impulsen. Damit legt er die Intelligenz hinter dieser scheinbar bloß illustrativen Musik frei. Bruce Liu geht Tschaikowsky auf den Grund. Wüsste man nicht, dass er erst 27 ist, müsste man fast von musikalischer Altersweisheit sprechen.
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