Das Gesamtwerk von Johann Sebastian Bach gleicht manchmal einem Labyrinth. Es kennt verschlungene Pfade und bietet immer wieder Gelegenheiten zu neuen Sichtweisen, selbst wenn man meint, den Weg schon bestens zu kennen. Der Musikwissenschaftler und Podcaster Michael Maul kennt sich in diesem Labyrinth seit Jahren bestens aus. In seinem neuen Buch betrachtet er Bachs Kantaten genauer.
Ein kleines, feines Büchlein über Bach
Es ist ein Traum für jeden Musiker: ein Dienstherr, der sein Geld mit vollen Händen für die Kunst ausgibt. Einer dieser Vertreter war Fürst Leopold von Anhalt-Köthen. Prominenter Profiteur seines Geschäftsgebarens war in den frühen 1720er-Jahren Johann Sebastian Bach.
Bach, sein Kapellmeister, hat ihm dieses großzügige Investment inzwischen veredelt: mit atemberaubenden Instrumentalwerken, die bis heute für das Nonplusultra in den jeweiligen Gattungen stehen.
Dazu zählen unter anderem die Brandenburgischen Konzerte und vier Orchester-Ouvertüren. Bach ist zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt und frisch verheiratet. Mit dieser kurzen biografischen Einordnung sind wir bereits mittendrin in Michael Mauls kleinem, feinem Bach-Büchlein.
SWR2 Zeitwort: Vor 300 Jahren wurde Bach Thomaskantor
Michael Maul geht mit Bach ins direkte Gespräch
Kurz darauf spricht der Autor Bach direkt an. Eine Freiheit, die er im Vorwort begründet:
Zum einen bietet mir das (immer einseitig bleibende) Gespräch die Möglichkeit, meine Ideen, Fragen, Hoffnungen oder subjektiven Einschätzungen rund um Bachs Werke oder einzelne biografische Episoden so vorzubringen, dass sie sich klar von der Sachebene abgrenzen. Zum anderen vermute ich, dass ich mit dem ‚Befund‘, in meinen Gedanken hin und wieder den Dialog mit Bach zu suchen, unter den enthusiastischen Liebhabern seiner Kunst nicht allein bin ...
Konkret umgesetzt, liest sich das, mit Bezug auf die Köthener Zeit, wie folgt:
Verehrter Bach, Sie sagen, die Neigung zur Musik soll bei dem musikalischen Heißsporn Fürst Leopold nach seiner Hochzeit mit der unmusikalischen Prinzessin etwas „laulicht“ geworden sein, heute würden wir sagen: sich etwas abgekühlt haben. […] wir beide wissen, dass sie an einer, wie es heißt, „schwachen Lunge“ litt und kaum anderthalb Jahre nach der Hochzeit sterben sollte […] Schwach und genau genommen immer schwächer wurden allerdings auch die finanziellen Mittel Ihres kleinen Sonnenkönigs.
Ja, man mag über diese ungewöhnliche Methodik diskutieren. Ich empfinde sie als einen klugen Schachzug, der es Maul ermöglicht, Wissen auf unmittelbare Weise zu vermitteln und gleichzeitig einen direkten Bezug zur Person, ihrem Umfeld, ihrer Zeit und ihren Lebensumständen herzustellen. So auch, als Bach Thomaskantor in Leipzig wird:
Zum einen lieferte Ihnen das Thomaskantorat, trotz des niedrigen Festgehalts von nur 100 Gulden pro Jahr, die Chance auf ein vielfach höheres Gesamteinkommen. Als Thomaskantor waren Sie der Musikdirektor der gesamten 30.000-Einwohner-Stadt, verdienten an jedweder Trauung, jedem Begräbnis und sämtlichen Geldern, die die Thomaner bei den wöchentlichen Singeumgängen in den Straßen einsammelten, kräftig mit.
Für dieses Buch braucht es nur Entdeckerlust
Im Fokus des Buches steht Bachs Kantatenwerk. Michael Maul beleuchtet es auf eine Weise, die kein besonderes fachliches Vorwissen verlangt, sondern nur die Lust am Entdecken.
Etwa bei der Kantate „Du sollst Gott, deinen Herrn lieben“. Bach versieht zu Beginn jede Passage des Chores mit einer eigenständigen Liedmelodie: in der Trompetenstimme und in der Begleitung.
Eine Frage zu BWV 77 hätte ich aber noch, vielschichtiger Bach. Haben Sie bei alldem den Eingangschor ganz bewusst so proportioniert, dass die Trompete insgesamt zehnmal zu den einzelnen Choralabschnitten ansetzt – entsprechend der Zahl aller Zehn Gebote?
Liebenswert, kurzweilig, nah am Komponisten
Wer zu den beschriebenen Beispielen die passende Musik gleich mithören möchte, findet durch einen Klick ins Internet eine Spotify-Playliste mit über 150 Titeln. Ein durchdachtes Konzept.
Michael Maul hat ein detail- und kenntnisreiches Bach-Buch geschrieben, liebenswert und kurzweilig, nah am Leben des Komponisten damals und jederzeit gut verständlich für die Lesergemeinde von heute.
Historische Aufführungspraxis Reinhard Goebel erklärt die Brandenburgischen Konzerte
Reinhard Goebel ist Geiger, Dirigent und leidenschaftliche Anhänger einer historisch informierten Aufführungspraxis. Für SWR2 teilt der weltweit gefragte Spezialist sein Wissen auch mit allen neugierigen Hörer*innen und Musikliebhaber*innen: Mit ganz viel Charme und Witz.