Igor Strawinsky schwärmte von „Daphnis et Chloé“ als einem der "schönsten Produkte der gesamten französischen Musik". Als choreografische Sinfonie komponierte sie Maurice Ravel für die Ballets Russes und ihren Impresario Sergej Dhiagilew. Am 8. Juni 1912 wurde das Werk in Paris uraufgeführt. Nicht ohne Schwierigkeiten: Denn es ist Ravels größte je geforderte Besetzung, ein riesiger Orchesterapparat.
Schafe und Piraten
„Lever du jour“, das „Erwachen des Tages“, dauert bei Maurice Ravel nur wenige Augenblicke. Aber wie er hier mit den Stimmen des Orchesters spielt, wirkt wie ein quecksilbriges Gemälde für die Ohren. Darauf zu sehen ist eine Liebesgeschichte, mit Hirtengott Pan, mit Nymphen, Piraten und einem Schäferpaar.
Es klingt episch, dennoch möchte man jeden Schmetterling fein ziseliert erkennen können. John Wilson schärft mit der Sinfonia of London jede Kontur. Schwindelerregend virtuos klingt die Partitur, trotzdem bleibt alles im Fluss.
Neuartige Klangsprache Ravels
Ein riesiges musikalisches Freskengemälde hat sich Ravel vorgestellt. Er träumte von Schäferszenen im antiken Griechenland, wie sie französische Künstler im 18. Jahrhundert gezeichnet hatten. Diese Bilder wollte Ravel aber nicht in traditionelle Ballettformen übersetzen. Der Komponist verzichtete auf Walzer, Polka und Schlussgalopp: Er erzählt in einem einzigen sinfonischen Guss.
Die Motive, die Ravel immer wieder einsetzt, schaffen Zusammenhang, gleichen sich beinahe magisch den Emotionen der Figuren an. Mal verhalten sinnlich, rhythmisch schwebend, dann wieder orgiastisch. Die Klangsprache wirkt ist Anfang des 20. Jahrhunderts absolut neuartig. Den Chor zum Beispiel setzt Ravel wie eine Orchesterfarbe ein. Er lässt ihn keine Worte formen, sondern verwendet gesungene Vokale für gesteigerte Ausdruckskraft.
Aufnahme mit dem WDR Sinfonieorchester & Rundfunkchor
Kampf um die Liebe
Das Libretto zu Daphnis et Chloé basiert auf einer Geschichte des griechischen Dichters Longos: Hirtenspiele auf der Insel Lesbos, vor Meereskulisse und Nymphenstatuen wetteifern junge Frauen und Männer tanzend um Liebesgunst.
Schäfer Daphnis gewinnt Chloés Kuss. Die Konkurrenz, den Kuhhirten Dorcon, macht Ravel zunichte, indem er ihn ungelenk darstellt und das Orchester in hämisches Kichern ausbrechen lässt.
Ballett statt Filmmusik
Junge Liebe ist ein ständiges Wechselbad der Gefühle. Die Sinfonia of London kalkuliert die Ravelschen Steigerungen bestechend, spielt aufmerksam, zart, elegant, selbst wenn sich der Klang wolkengleich aufbauscht. Manche Stellen könnten noch etwas mysteriöser klingen. Was dem Orchester aber vielleicht in der Tiefe fehlt, macht es mit Leidenschaft und Energie wieder wett. In jedem Fall profitiert das Orchester von seinem Filmmusik-geprägten Sound.
In der englischen Presse wird das Orchester gefeiert, seit Dirigent John Wilson das frühere Filmmusik-Ensemble 2018 zu neuem Leben erweckt hat. Es ist ein Projektorchester, für das Wilson jedes Mal exzellente Musikerinnen und Musiker zusammentrommelt, oft für seltenes Repertoire.
Mit der Neu-Einspielung von Ravels Daphnis et Chloé hat das Orchester jetzt einen Repertoire Prüfstein eingespielt. John Wilson hat dafür eigens die Ballettpartitur auf Fehler abgeklopft und eine streng redigierte Fassung erstellt. Sein Geheimnis liegt in der Liebe zum Detail – die er selbst im größten Klangrausch nicht vergisst.
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