SWR Classic: Herr Sánchez Verdú, Herr Staud, in Ihren Opernprojekten spielt Wasser eine gewisse Rolle. Können Sie beide kurz sagen, worum es in Ihren Werken jeweils geht?
Sánchez Verdú: Das ist nicht das erste Mal, dass Wasser eine wichtige Rolle in meiner Musik spielt. Im Fall von "ARGO" kommen in dramaturgischer Hinsicht allerdings auch noch mythologische Themen hinzu. Es gibt drei Personen, die für mich ganz wichtig sind. Die eine ist Odysseus. Er wollte die Sirenen hören, aber er wollte nicht von ihnen in ihren Bann gezogen werden. Deshalb hat er sich am Mast festgebunden.
Orpheus findet einen anderen Weg, den Sirenen zu entgehen, indem er die Lyra so laut spielt, dass er die Sirenen nicht mehr wahrnehmen kann. Ein weiterer wichtiger Protagonist ist Butes. Er ist relativ unbekannt, aber er war einer der Argonauten auf dem Schiff Argo. "ARGO – Dramma in musica" – das ist ja auch der Titel meiner Oper. Butes hat das Gegenteil von Orpheus gemacht. Er ist ins Wasser gesprungen. Er wollte nämlich nach diesem Urklang der Sirenen suchen. Deshalb ist die Oper so etwas wie eine Anti-Orpheus-Geschichte.
Staud: Bei mir ist das Wasser ebenfalls ein wichtiges Element. Meine Oper "Die Weiden" spielt jedoch nicht am Meer, sondern an einem Strom im Mitteleuropa von heute. Es geht um ein junges Paar, das sich auf eine Fahrt begibt. Es ist eine Reise durch verschiedene Länder in Mitteleuropa in einer politisch schwierigen Zeit, die Parallelen aufweist zu den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Sánchez Verdú: Bei mir gibt es auch eine politische Dimension. Wenn wir heute Mittelmeer hören, dann denken wir nicht mehr in erster Linie an einen Urlaub, sondern an all diese Tragödien, die im Mittelmeer passieren. Das ist bei mir der aktuelle politische Bezug. Es ist ein Stoff mit mehreren Möglichkeiten der Lektüre.
Staud: Die Basis meiner Oper ist eigentlich Algernon Blackwoods "Die Weiden". Hier kommen Menschen in einen ganz verlassenen Landstrich und es gibt Zeichen eines alten Kultes. Und sie merken, dass dieser noch nicht gestorben ist. Der Librettist Durs Grünbein und ich haben das umgedeutet und dem Stoff eine politische Dimension gegeben. Wir verknüpfen also eine Flussfahrt mit einer politischen Allegorie, in diesem Fall dem Dritten Reich.
SWR Classic: Nun sind wir hier ja im Experimentalstudio. Da liegt es natürlich nahe zu fragen, wie Sie die Elektronik, Live-Elektronik oder Zuspielbänder einsetzen? Wird die Elektronik bestimmten Personen zugeordnet, IST die Elektronik eine Person oder symbolisiert sie etwas?
Sánchez Verdú: Jedes Projekt im Musiktheater, das ich bis jetzt realisiert habe, spielt ganz extrem mit Raum. Für ARGO versuche ich, dass die Bühne oder auch die Wahrnehmung des Publikums diese Bewegung oder Oszillation eines Schiffes wahrnehmen kann. Mit Joachim Haas entwickeln wir seit einiger Zeit ein elektronisches System. Das habe ich "Argo Navigation System" genannt. Ich möchte damit den Eindruck verschaffen, dass sich alles im Raum durch die Elektronik bewegt, in verschiedenen Richtungen. Und gleichzeitig agiert die Bühne auch als Meta-Instrument, weil es dort Instrumente gibt, die an den antiken Aulos erinnern. Die Sirenen bekommen eine außerirdische Dimension durch die Elektronik und die Transformation im Raum. Die Elektronik spielt auf vielen Ebenen eine wesentliche Rolle. Deshalb freue ich mich sehr, im Experimentalstudio diese verschiedenen Kategorien zu entwickeln. Ohne das Studio könnte ich das nicht tun.
Staud: Wenn ich Dich richtig verstehe, sind es die Sirenen, die Du elektronisch transformierst.
Sánchez Verdú: Ja, bzw. die Stimme der Sirenen. Sie treten auf der Bühne gar nicht auf.
Staud: Das ist bei uns wahrscheinlich ähnlich. Wir suchen auch nach Möglichkeiten, die Stimmen, seien sie gesungen oder vor allem gesprochen, in Echtzeit zu verändern. Eine Mischung aus Chor, phonetischer Komposition, die dann übergeht in Elektronik. Ich arbeite ja auch schon länger mit Michael Acker zusammen. Das ist jetzt schon unsere dritte gemeinsame Oper. Wir verschieben immer ein bisschen unseren Schwerpunkt.
Bei der ersten Zusammenarbeit "Berenice" waren es vor allem live ausgesteuerte Zuspielbänder. Bei der zweiten, "Antilope", haben wir schon mehr Echtzeitprozesse eingefügt, und jetzt nochmal mehr: Jetzt ist unser Hauptaugenmerk auf die Stimme gerichtet. Auch auf Instrumente, die mit Stimmen verschmelzen. Und da kann natürlich die Elektronik etwas ermöglichen, was auf rein instrumentalem oder vokalem Wege nicht zu erreichen ist. Wenn die Fantasie des Komponisten schon 'weiter' ist, dann ist heute die flexibel einsetzbare Elektronik hilfreich, weil sie Klangräume schafft, die sonst nicht möglich wären. In meiner neuen Oper begegnen die Menschen auf ihrer Reise sich verändernden Leuten. Diese Leute mutieren zu Fischen, nämlich Karpfen. Man hört das dann auch elektronisch. Wir sind gerade dabei, eine gewisse „Ver-Karpfung“ elektronisch darzustellen. Nun habe ich dabei nicht so schöne Instrumente wie José María zur Verfügung... [lacht]
SWR Classic: Sie sind also von der reinen Zuspielung von Tonbändern immer weiter in die Live-Elektronik eingedrungen.
Staud: Ja, würde ich sagen...
SWR Classic: Und wie ist das bei Ihnen? Sie entwickeln mit Joachim Haas ja immer neue Instrumente. Das ist also etwas anders...
Sánchez Verdú: Ja, ich glaube fast alle fünf oder sechs Projekte, die wir bislang zusammen gemacht haben, haben schon auch sehr extrem mit dem Raum zu tun. Wie kann man bestimmte Objekte im Raum integrieren? Das sind Projekte, die sehr installativ sind. Die poetische Entwicklung der Musik und des Raumes gleichzeitig wird hybrid entwickelt durch die Elektronik. Wobei zu den Personen, Objekten, Räumen und Zeiten natürlich noch Musik hinzukommt. Manchmal merkt man gar nicht, ob Elektronik dabei ist. Aber ich liebe diese Erotik von etwas, das man nicht versteht, in diesem Fall wenn man nicht sofort merkt, dass Elektronik im Spiel ist. Und in diesem Zusammenhang, genau wie bei Dir, Johannes, habe ich mit Joachim Haas jedes Mal verschiedene Wege entwickelt. Sonst wäre es ja auch ein bisschen langweilig.
SWR Classic: Das ist richtig. Sie sind ja beide nicht das erste Mal im Experimentalstudio und arbeiten fast immer mit denselben Musikinformatikern zusammen. Wie sehen Sie die Zusammenarbeit? Sind sie Ideengeber, sind sie Umsetzer, oder wie können wir uns die Zusammenarbeit vorstellen?
Staud: Eine Sache ist sehr wichtig für mich. Es ist ein sehr intimes Verhältnis. Es gibt nur sehr wenige Leute, mit denen ich überhaupt zusammenarbeiten kann. Wenn Michael irgendetwas programmiert, dann traue ich mich, mich ans Klavier zu setzen. Daher braucht es so ein Vertrauensverhältnis. Insofern Vertrauensverhältnis, als dass man GEMEINSAM versucht, zu einem optimalen Ziel zu gelangen. Das ist bei mir auch schon das fünfte Projekt mit Michael und daher eine langjährige Verbundenheit. Wenn das Vertrauensverhältnis da ist, dann ist das etwas total Schönes. Man gibt etwas und man bekommt etwas. Man kommt hier im Experimentalstudio auch auf Ideen, die man vorher vielleicht nicht hatte. Allein schon durch die Beschäftigung oder durch die Fragestellungen, die Michael an mich richtet.
Sánchez Verdú: Also ich muss sagen, wenn ich einen Auftrag habe oder ein Projekt mit Elektronik entwickeln will, dann habe ich oft bestimmte Ideen, bin aber offen für verschiedene Wege. Was ich hier sehr spannend finde, ist die Möglichkeit, diese Recherche weiter zu entwickeln durch die Technologie. Mit Joachim Haas kann ich die Ideen, die ich habe, realisieren. Danach kommt dieser Input, und mit diesem Input und den verschiedenen Prozessen werden meine Projekte immer reicher.