Donaueschinger Musiktage | Werke des Jahres 2023

Éliane Radigue & Carol Robinson: Occam Océan Cinquanta

Stand

für Orchester

Werkkommentar

Occam Océan Cinquanta ist die jüngste Komposition des umfangreichen Zyklus OCCAM OCEAN. Das Werk ist speziell für fünfzig Musiker:innen des SWR Symphonieorchesters konzipiert und driftet durch eine Vielzahl sich überlagernder Wellenbewegungen wie auf einem flüssig gewordenen Pfad. Wie jedes OCCAM-Stück ist es von den Bewegungen des Wassers inspiriert, entweder von den tiefsten Meeresströmungen oder von den kleinsten sprudelnden Wellen. Die Komponistinnen arbeiten mit den Musiker:innen auf mündliche Art und Weise und machen sie so mit einer neuen "Aural-Tradition" oder Tradition des Hörens vertraut, mit einer zunehmend verständlicher werdenden Art des gemeinsamen Musikmachens. Es gibt keine Partitur. Anstatt schriftlichen Anweisungen zu folgen, sind die Musiker:innen aufgefordert, sich von ihren Ohren durch eine bestimmte Abfolge von Interaktionen leiten zu lassen. Auch wenn während der Erarbeitung des Stücks eine gewisse Freiheit besteht, so ist die Musik dennoch nicht improvisiert. Ähnlich einer Wasseroberfläche, die unter bestimmten Umständen von Tag zu Tag oder sogar von Minute zu Minute leicht verändert erscheinen kann und dabei doch immer dieselbe Oberfläche, dasselbe Gewässer bleibt. Die Musiker:innen sollen darauf vertrauen, dass die Musik, auch wenn sie jedes Mal etwas Anderes zu sein scheint, immer dieselbe ist. Klänge haben ihre eigene fluktuierende Wahrheit. Um die ganze Subtilität dieser Musik zu bewältigen, sind die größtmöglichen technischen Fähigkeiten und die maximale Sensibilität der Musiker:innen gefordert.

OCCAM OCEAN begann mit einem Stück für Solo-Harfe, das von Rhodri Davies in Auftrag gegeben wurde. Damals, im Jahr 2011, konnte niemand ahnen, welche Fülle an Musik sich daraus ergeben würde. Inzwischen gibt es siebenundzwanzig Solostücke für viele verschiedene Instrumente. Das letzte, OCCAM XXVII, wurde 2019 für Dudelsack komponiert. Bereits 2012 hatte Éliane Radigue begonnen, Material aus den Solowerken zu Ensemblestücken zu kombinieren, von Duos bis zu Septetten. Da oft dieselben Musiker:innen an den sich entwickelnden Kombinationen beteiligt waren, wurde Radigues musikalische Sprache für akustische Instrumente sowohl gewagter als auch besser realisiert. Interessanterweise sind die sich daraus ergebenden Schichten simultaner Schwingungen sehr eng mit der klanglichen Komplexität ihres elektronischen Werks verwandt. Diesen intuitiven, bildorientierten Ansatz hat sie bei insgesamt vierundsiebzig Werken angewandt, darunter OCCAM OCÉAN I & II für große Ensembles. Occam Océan Cinquanta mit seinen wahrhaft orchestralen Dimensionen ist der aktuelle Höhepunkt des Zyklus.

Éliane Radigue und Carol Robinson arbeiten seit 2006 zusammen. Ihre erste Zusammenarbeit war als Komponistin und Klarinettistin bei der Entwicklung des groß angelegten Naldjorlak-Trios. Im Laufe der weiteren Zusammenarbeit an zahlreichen Stücken des OCCAM-Zyklus wurde ihre Verbundenheit immer stärker. Ihr erstes gemeinsam komponiertes Stück entstand aus einer bestimmten Notwendigkeit heraus. OCCAM HEXA II wurde 2015 vom Decibel Ensemble in Auftrag gegeben und erforderte Arbeit vor Ort in Perth in Australien. Eine so lange Reise war für Radigue nicht möglich. Deshalb reiste Robinson dorthin, um direkt mit den Musiker:innen zu arbeiten. Seitdem haben die beiden mehrere weitere Stücke für Ensembles unterschiedlicher Größe gemeinsam komponiert. Einzigartig an ihrer Zusammenarbeit ist, dass sie sowohl theoretisch als auch praktisch ist, denn Robinson hat nicht nur ein natürliches Verständnis für diese besondere Musik, sondern hat sie als Instrumentalistin auch selbst erfahren. Dabei hat sie die feinen physischen Schwingungen erzeugt, die diese Musik so besonders machen. Für Occam Océan Cinquanta hat Robinson die Vorbereitungen und die Arbeit vor Ort übernommen.

Wie in jedem OCCAM-Stück lösen sich auch in diesem neuen Werk zeitliche Bezüge auf durch sanft pulsierende Obertöne, Subtöne und Teiltöne, die sich überlagern, während sich graduelle Farbverschiebungen durch das Orchester bewegen. Es gibt keine Melodien an sich, sondern ausgedehnte Klänge, die zum Innehalten und Nachdenken anregen. Die Besetzung, in der es keine Oboen und Hörner gibt, konzentriert sich auf mittlere und tiefe Tonlagen. Es gibt nur minimale Skordaturen und einen begrenzten Einsatz von Blasinstrumenten. Rhythmus und Timing entwickeln sich aus der durch innere Schwingungen erzeugten Spannung. Diese Konzentration auf schwingende Obertöne erzeugt verblüffende akustische Effekte, und die Musik zieht die Zuhörenden in ihr Innerstes hinein.

English

Occam Océan Cinquanta is the latest composition in a vast cycle called OCCAM OCEAN. Conceived especially for fifty musicians from the SWR orchestra, it drifts through a large range of overlapping undulations, as on a path become fluid. As for every OCCAM piece, it is inspired by movements of water, whether the deepest ocean currents or the tiniest of sparkling wavelets. The composers work with the musicians orally, introducing them to what is emerging as a new aural tradition, an increasingly comprehensible way of making music together. There are no scores. Instead of following written indications, the musicians are asked to let their ears guide them through a determined progression of interactions. Though there is a certain freedom of exploration while the piece is being elaborated, the music is not improvised. Just as the surface of water in a particular setting can appear ever so slightly changed from day to day, or even from minute to minute, it remains the same surface, the same body of water. The musicians are asked to trust that though the music might be somewhat different every time it is played, it is the same music. Sounds have their own fluctuating truth. The utmost involvement of each musician's technical prowess and sensitivity is required to maneuver the absolute subtlety of this music.

OCCAM OCEAN began with a piece for solo harp commissioned by Rhodri Davies. At that time, in 2011, no one could have imagined the quantity of music that would ensue. There are now twenty-seven solos for a wide variety of instruments. The last, OCCAM XXVII, was composed for bagpipe in 2019. Already in 2012, Éliane Radigue had begun combining material from the solos into ensemble pieces ranging from duets to septets. Since the same musicians were often included in the evolving combinations, Radigue's musical language for acoustic instruments became both more codified and more adventurous. Interestingly, the resulting layers of simultaneous vibrations are very closely related to the auditory intricacy of her electronic oeuvre. This intuitive image-related process has been used to create some seventy-four works including OCCAM OCÉAN I & II for large ensembles. Occam Océan Cinquanta, with its truly orchestral proportions, is the current culmination of the cycle.

Éliane Radigue and Carol Robinson began working together in 2006. Their initial collaboration was as composer and clarinetist during the development of the massive Naldjorlak trio. As they continued working together on numerous pieces in the OCCAM cycle, their complicity became ever stronger. Their first co-composed piece was born out of necessity. Commissioned by the Decibel ensemble in 2015, OCCAM HEXA II required on-site work in Perth, Australia. Such a long trip was impossible for Radigue, so it was Robinson who travelled to work directly with the musicians. Since then, they have co-signed several more pieces for ensembles of various sizes. Their partnership has the unique advantage of being both theoretical and practical, because beyond sharing an innate understanding of this special music, Robinson has experienced it as an instrumentalist producing the delicate physical vibrations that so specifically comprise it. The preparatory and on-site work for Occam Océan Cinquanta was done by Robinson.

As for any OCCAM piece, this new work creates the suspension of referential time through gently pulsing harmonics, subtones and partials that overlap as gradual color shifts move across the orchestra. There are no melodies per se, rather, extended tones that incite contemplation. The orchestration, lacking oboes and French horns, favors mid and lower tones. There is minimal scordatura and limited use of extended techniques for the wind instruments. Rhythm and timing develop out of the tension produced by internal vibrations. This concentration on vibrating overtones creates startling acoustic phenomena as the music welcomes the listener into its essence.

Stand
Autor/in
SWR