Donaueschinger Musiktage | Werke des Jahres 2023

Jessie Marino: The Positive Reinforcement Campaign. Murder Ballads: Volume II

Stand

Werkkommentar

Manchmal ist es nur möglich, die Nachricht einer großen Zerstörung zu verkraften, wenn diese Nachricht in die Sanftheit eines Liedes gehüllt ist.

Dieser aus murder ballads bestehende Song-Zyklus, The Positive Reinforcement Campaign, kombiniert improvisierte experimentelle Klanglandschaften, traditionelle Sacred-Harp-Hymnen und Volksballaden aus den Appalachen. Wir singen die Geschichten kostbarer Wesen – seien sie menschlich oder aus der Umwelt –, die der Brutalität von Geringschätzung, Gier, Eifersucht und völliger Missachtung ausgesetzt sind. Diese Lieder sind das Ergebnis einer intimen und direkten Zusammenarbeit zwischen der Komponistin/Performerin Jessie Marino und vier norwegischen Musikerinnen, nämlich dem Trio Pinquins (Jennifer Torrence, Sigrun Rogstad Gomnæs und Ane Marthe Sørlien Holen) und Inga Margrete Aas. Durch Improvisation, Experimentieren und Gruppengesang ist The Positive Reinforcement Campaign entstanden, um die Form dieser traditionellen Lieder neu zu erfinden und zu gestalten. Sie werden mit der eigenen Klangsprache der Musikerinnen gefüllt und reflektieren über die schrecklichen Geschichten unserer heutigen Zeit.

"Die murder ballads zeugen davon, dass die Appalachen, insbesondere in der Zeit des industriellen Wandels im 19. Jahrhundert, durch wesentliche Spannungen zwischen den kulturellen Traditionen der Vergangenheit und den aufkommenden Vorstellungen der amerikanischen Moderne geprägt waren. Diesem Spannungsverhältnis wird in den Liedern mit Reaktionen auf Gewalt gegen Frauen begegnet, deren von sexueller Freiheit geprägte Lebenssituationen das Abbild einer neuen kulturellen Moderne sind, die die Hegemonie der Vergangenheit bedroht."
Christina Ruth Hastie: "This Murder Done": Misogyny, Femicide, and Modernity in 19th-Century Appalachian Murder Ballads

"Viele der menschlichen Figuren auf der Todeskarte klammern sich an das, was gerade zur Hand ist. Sich im Angesicht der Gefahr an das Vertraute und Sichere zu klammern, liegt in der Natur der Sache, selbst wenn diese durch Panik und Angst hervorgerufene Verzweiflung zu Schmerz und Verderben beiträgt, wie wenn ein Ertrinkender jeden mit sich in die Tiefe reißt, der ihm zu helfen versucht. Der große Erfolg der Menschheit besteht in ihrer Fähigkeit, Gefahren einzuschätzen und die notwendigen Veränderungen vorzunehmen, um ihnen zu entgehen. Doch ironischerweise ist die Menschheit so abgeneigt, sich zu verändern, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tut, um die Dinge so zu belassen, wie sie sind, egal wie veraltet oder schädlich sie auch sein mögen. Diese Dichotomie ist eine der Hauptkrankheiten des modernen Menschen. Wie Jung sagte: ‹Das Zurückschrecken vor dem Tod ist etwas Ungesundes und Abnormales, das die zweite Hälfte des Lebens ihres Sinns beraubt›. Der Mensch ist zwar ängstlich, aber das einzig Sichere im Leben ist der Tod, so sicher wie die Gewissheit selbst der Tod ist. Aber die Todeskarte fordert den Fragesteller auf, sich auf das Loslassen einzulassen. Der Tod ist mit dem Leben selbst verwoben.... es gibt kein Loslösen des einen vom anderen, denn Tod und Leben sind die beiden Zyklen des Zweitaktmotors der Existenz."
J. F. Martel & Phil Ford: The Gnostic Tarot. Weird Studies Episode 138

eine Versammlung –
bevor wir an Bord des Schiffes gehen.
wie lange können wir uns über Wasser halten?
Weißt du noch, wie der Klang von ihren Lippen kam?
Seid Zeugen! Die Auslöschung ihrer Stimme.

vom Schiff aus –
in der Ferne, eine Brücke
zwei Herzschläge lang stehend
steuert den Bug, um sich unter ihre stählerne Kurve zu schmiegen
Seid Zeugen! Die Herzschläge kehren zum flüssigen Schatten zurück.

von der krachenden Welle zum Blasen werfenden Ufer –
drei Schwestern entdecken ihren Zauber
in einem Becken voller Federn und Blut –
abgezapft aus ihren eigenen blauen Adern.
Seid Zeugen! Das Bestialische des Entführers

Lichter an!
Runter, Mädchen, runter
Nicht schwitzen!
Bleib unten!
Oh Mann!
Seid Zeugen! Das trotzige Gebrüll unserer Verzweiflung.

unsere Mutter fleht mit einem schicksalhaften Kometen
kosmischen, rasenden, helfenden Felsen
Ein brutaler Sturz
Seid Zeugen! Der stetige und unheilvolle Trab unserer letzten Schritte.
Hier kommt die Hölle und das Hochwasser.
(Übersetzung Florian Heurich)

Dieses Werk enthält Geschich ten über körperliche Gewalt, Selbstmord und den Tod von Kindern. Bitte seien Sie vorsichtig beim Hören.

English

Sometimes, it is only possible to grapple with the news of great devastation when that news is encased in the softness of a song.

This song cycle of murder ballads, The Positive Reinforcement Campaign, weaves together improvised experimental soundscapes, traditional Sacred Harp hymns, and Appalachian folk ballads as we sing the tales of precious entities, be they human or environmental, which are subjected to the brutality of contempt, greed, jealousy, and utter disregard. These songs are the results of an intimate and direct collaboration between composer/performer Jessie Marino with four Norwegian musicians, the trio Pinquins (Jennifer Torrence, Sigrun Rogstad Gomnæs and Ane Marthe Sørlien Holen) and Inga Margrete Aas. Through improvisation, experimentation and group singing The Positive Reinforcement Campaign has banded together to reimagine and reconfigure the vessels of these traditional songs – populating them with their own sonic languages and reflecting on the horrific stories of our current time.

"The murder ballads witness that Appalachia, specifically in the 19th century period of industrial change, was defined by essential tensions between cultural traditions of the past and emerging notions of American modernism. This tension is met in the songs with responses of violence against women whose life situations – marked by sexual freedom – are the very depiction of a new cultural modernism that threatens the hegemony of the past."
Christina Ruth Hastie: "This Murder Done": Misogyny, Femicide, and Modernity in 19th-Century Appalachian Murder Ballads

"Many of the human figures on the death card cling to whatever is at hand. To clutch at the familiar and safe in the face of danger is second nature, even when such panic and fear-induced desperation contributes to pain and ruination, as when a drowning man pulls down with him anyone who tries to help. Humanity's great success is its ability to assess and make the changes necessary to evade peril. Yet ironically, humanity is so loath to change, it does everything in its power to keep things as they are, regardless of how outmoded or detrimental. This dichotomy is one of the primary illnesses of modern man. As Jung said ‹Shrinking away from death is something unhealthy and abnormal which robs the second half of life of its purpose.›‚ Man is anxious, to be sure, but the only sure thing in life is death, just as sure as surety itself is death. But the death card entreats the Querent to embrace letting go. Death is interlaced with life itself…. there is no unsticking the one from the other, as death and life are the two cycles of the two-stroke motor of existence."
J. F. Martel & Phil Ford: The Gnostic Tarot. Weird Studies Episode 138

a gathering –
before boarding the ship.
how long are we able to stay afloat?
Remember how the sound fell from her lips?
Witness! The vanquishing of her voice.

from the ship –
in the distance, a bridge
two heartbeats standing
steer the bow to nestle under her steely curve
Witness! The heartbeats return to liquid shadow.

alighting from cresting wave to blistered shore –
three sisters discover their magic
in a basin full of feather and blood –
tapped from their own blue veins.
Witness! The fellness of the abductor

Lights up!
Down girl, down
Don't sweat!
Stay Down!
Oh boy –
Witness! The defiant bawl of our exasperation.

our mother pleads with a fateful comet
cosmic, speeding, succoring rock
One fell swoop
Witness! The steady and ominous trot of our final paces –

Here comes hell and high water.

This work contains stories of physical violence, suicide, and child death. Please take care while listening.

Stand
Autor/in
SWR