Donaueschinger Musiktage 2000 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2000: Bericht über "Contract Tendencies"

Stand
Autor/in
Thomas Schulz

We come to the votes now

"Geräusch, Herkunft dunkel, häufigste Schallart"

Als langjähriger Insasse des Medien-Lagers Welt und überflutet von den Wellen der Mikrofone auf und aus Mündern von Politikern und anderen, die ihre Giga-Hertzen der bildbeschirmten Weltbevölkerung ausschütten dürfen, zeichnete ich im Auftrag der 'Berliner Mikrophoniker' von 1989 an zahlreiche Arbeits -und Bohrgeräusche tief unten im Schacht des Euro-Tunnels gen England auf. Die Dialekte der Arbeitenden im Euro-Tunnel die sich im 24-Stunden Rhythmus ablösten, eröffneten in mir die Vorstellung von den Sprachen als Wegen und den Wegen der Sprache.

Die Klangskulpturen von der Erschließung der geologischen Schichten in den Stimmen des Materials – der Kreide, des Wassers, der Maschinen, der vielen Sprachen der Arbeiter und der visuellen Klänge – bilden die Brücke zu den Reisen durch das Gestein der parlamentarischen Willensbildung. Als dann die Erfahrung der Vielsprachigkeit des Europa-Parlaments dazukam, entstand der Gedanke eines inneren Zusammenklangs der auf Europa gerichteten Unternehmungen.

Das Europäische Parlament erschien mir in 3-D: als Metapher für die Arbeit an der Institutionalisierung einer politischen Idee durch demokratische Verfahren; als Realität erlebte ich sie auf der Baustelle der neuen Parlamentsgebäude im Quartier Leopold in Brüssel; und schließlich: Dünung der Stimmen in Sprechakten.

Mikrofone sind von nun an keine Aufzeichnungsgeräte mehr, sondern akustische Klangkörper. Mikrofonaufzeichnungen vom Sprechen der Person in ein Mikrofon kennzeichnen seine Um- und Unumkehrbarkeit. Wo beginnt, wo endet der Sender, die Nachricht.

Die Nachricht von Klängen, in deren Nachhallzeit – von kosmisch/akustischen Weitspuckern noch längst nicht lizensiert – sich der Wortstaub durch die Münder eines Begriffsvermögens bläst, das uns ortlos als Klänge aufhebt, bis die Körper einander gehört haben. Die Zeitdauer vernommener, gehörter und gemeinsamer Existenz.

Mikrofone sind Übertragungskörper, Schalt- und Gelenkstelle, aus deren Mündern in jeweiligen Sprachen Unübersetzbares, ungehörte Anwesen münden : "Frau Präsident, Herr Präsident, das ist falsch übersetzt, das gibt es nicht, jedenfalls nicht in unserer Sprache, das ergibt eine Konfusion." Von der Untergrabung der Meere bis zu den Abstimmungen ihrer Parlamente ereignet sich der un-erhörte Umbruch im Stimmleib Europa und angrenzender Baustellen. Reden und Kräne durchziehen das Land mit einem Affenzahn. Das Meer ist zur Ergreifung ausgeschrieben.

ADEBAR überfliegt im Gespräch mit sich und Artgenossen die Trophäen von Großwildjagden, während die Tagesordnung die sprechenden Stimmen aus Debatte, Abstimmung und Aussprache der Plenen in Brüssel und Straßburg sondiert. In der jeweiligen Aussprache der Sprachen entstehen Aussprachen anderer Art; werden hörbar, wenn die übersetzenden Stimmen miteinander, dann ineinander sprechen, übereinander her und auseinanderfallen.

Von den Hälsen der Stative sprechen umgedrehte Mikrofone, zu Ensembles postiert, kosmische Kon-Fusionen zirkulieren in Anzahlen, Anfällen und Zufällen, "We come to the votes now". In elf Amtssprachen wird Atem geholt zwischen den Übersetzungen. Der Atem dringt durch und verweht, der Kurs ist verzeichnet im Logbuch des Protokolls. Im Wechselsprechgesang abstimmender Stimmen weht ein Gleichnis in Schallbildern aus dem Mundraum Europa. "Contract tendencies/Vertrags-Tendenzen". Ausgangsmaterial der Komposition sind Aufzeichnungen von abstimmenden Stimmen des Europa-Parlaments in 11 Amtssprachen. Das Ritual des Sprechens, das ritualisierte Sprechen, Sprach-Akt. Eine Stimme führt die Abstimmung, die anderen Stimmen folgen, verebben und steigen vielstimmig an, werden geführt. Es ist chorisches Sprechen, vielsprachig polyphon.

"Wer ist dafür? Dagegen?", die Begriffe der Abstimmung verschwinden in ihren Bedeutungen. In der Betroffenheit der Übersetzer erscheinen sie wieder, jetzt losgelöst: "Hat sich jemand enthalten?"

Beim Übersetzen des Gehörten wie im Übersetzen in das Gehörte, der Klang der Sprache wird – freigesetzt – Singsang einer Abstraktion, die sich dann – abgelöst von Bedeutung und eigentlichem Gegenstand der Abstimmung – öffnet.

Man hört etwas in dieser Öffnung, in Sprachräume hinein, durch die man sich (hin-)durchfragt zu Entstehungszusammenhängen dieses Sprechens; eine Form der Freisetzung von Sprache. Ein Sprachraum zeigt sich, der sich ablöst von dem Gegenstand der da verhandelt, wird. Arbeite fallweise durch den Klang, die minimalen Verschiebungen in der Synchronizität; hundertfach gehörte Begriffe werden neu gehört, lösen sich ab von ihrer Bedeutung und werden – freigelegt – Hörbild, hörbildlich akustische Skulpturen.

Das Material Sprache verwandelt sich in Klang, wird zur Ausgangserfahrung einer vielsprachlich klanglichen Spiegelung der im Sprechen selbst ausgeblendeten sinnlichen Affekte. Klang (hohes-) G-Dichte von `Bô-Dingung zu `Bô-Singung, es wird über Klänge abgestimmt.
"Wir kommen jetzt zur Abstimmung"

Stand
Autor/in
Thomas Schulz