Donaueschinger Musiktage 2002 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2002: "Phonautograph"

Stand
Autor/in
Alan Hilario

Der Phonautograph, ein Apparat bestehend aus einer auf eine trichterförmige Tonne gespannten Membran, in deren Mitte eine Schweinsborste befestigt ist, verwandelt Klänge in Zackenschrift. Diese Erfindung von Léon Scott zur Aufzeichnung von Klangschwingungen aus dem Jahr 1857 gehört zur Vorgeschichte der Tonaufzeichnungstechnologie, da man diese Aufzeichnung noch nicht abhören konnte.

Der Zusammenhang zwischen Graphik und Klang – wie ihn Scotts Instrument exemplifiziert – verleiht diese mit Plattenspielern besetzte Komposition eine Umdeutung: Aufgrund der Arbeitsmethode, gezielte "störende Impulse" in die Schallplatten einzukratzen, wird auf die Schallplatten ein "Autogramm" geschrieben. Diese erzwungene Rille produziert jedes Mal einen Impuls, wenn die Plattenspielernadel darüber fährt. Es entstehen regelmäßige Pulse, wenn man senkrecht zur Mitte einritzt, und Rhythmen, wenn man mehrere Rillen in unregelmäßigem Abstand bzw. unterschiedlichen Winkeln einkerbt.

Die eingesetzten vier Plattenspieler lassen aus diesen einfachen Rhythmen komplexe und irrationale Summenrhythmen entstehen, da das Zusammenspiel dem Zufall überlassen wird. In Verbindung mit der digitalen Technologie lässt sich danach die Dauer dieser Impulse bestimmen, so dass extrem kurze Impulse erklingen, deren Länge variiert werden kann bis hin zur vollen Dauer zwischen zwei Kratz-Impulsen. Ein einzelner rhythmischer Impuls ist die kleinste Einheit des in Zyklen strukturierten Zeitverlaufs, und die Vervollständigung dieser Impulse mit anderen Parametern ist maßgebend für deren Verflechtungen.

Die Klänge, die ich mit jedem Impuls kombiniert habe, stellte ich mir als Klänge von verschiedenem Gewicht vor: einerseits aufgrund ihrer immanenten Eigenschaften (flageolettähnliche Klänge wären z.B. "leicht und in der Luft schwebend", wohingegen die groben Impulse aus den angekratzten Rillen der Schallplatten schwerer wiegen), andererseits aufgrund der Assoziationen und der Semantik der Klangfarbe oder des Musikfragments, die eine erweiterte Rezeptionsweise bewirken können.

Die Auswahl der Schallplatten entstammt der ursprünglichen Absicht, von Musikstilen beeinflusst und geleitet zu werden, die historisch bereits beträchtliche Einflüsse auf andere Kulturen genommen haben. In der weiteren Arbeit wurde aber deutlich, dass meine Arbeit nicht irgendwelche musikalischen Charakteristika dieser Musikgattungen übernehmen, sondern lediglich die Frage ihrer technischen Reproduzierbarkeit und kommerziellen Dissemination ins Zentrum des Interesses rücken soll.

Schließlich wurden kein bestimmtes Œuvre bzw. spezifische Schallplatten festgelegt – es sollen verschiedene Versionen aus den austauschbaren Schallplatten entstehen, die z.B. auf Flohmärkten beschafft werden können. Es handelt sich dabei zumeist um traditionelle Musik im weitesten Sinne. Dass solche Musik nun extrem billig zu erwerben ist, bedeutet keineswegs, dass sie keine Hörer mehr findet. Im Gegenteil: Nur die Musikspeicherungstechnologie Schallplatte wurde verdrängt, aber diese Art von Musik mit ihren wesentlichen Eigenschaften wie z.B. die temperierte Stimmung und die Dur-Moll-Harmonik, verbreitet schneller denn je ihren Einfluss und ihre Autorität, begünstigt durch die rasante fortschrittliche Entwicklung der Kommunikationstechnologie.

Stand
Autor/in
Alan Hilario