Donaueschinger Musiktage 1999 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 1999: "early 70's, three scenes in Brooklyn Street, Cubao"

Stand
Autor/in
Alan Hilario

Anfang der dreißiger Jahre wurde der Tonfilm erfunden. Was einerseits als technischer Fortschritt zelebriert wurde, signalisierte gleichzeitig den Anfang vom Ende der Stummfilmära. Bedauerlicherweise geschah dies, "bevor der Stummfilm sein letztes Wort gesprochen hatte". Was der Stummfilmregisseur René Clair mit dieser Formulierung zum rein bildnerischen Erzählen meinte, möchte ich auf die Verbindung zwischen Film und Musik übertragen. Die Stummfilme sind zwar stumm in dem Sinne, daß keine Tonspuren auf dem Filmstreifen gespeichert sind, aber sie wurden von Live-Musik begleitet. Mein Stück könnte insofern als eine Anknüpfung an diese Aufführungsform von Film mit Musik verstanden werden, die in den letzen Jahren eine Renaissance erlebt. Allerdings wurde kein Original-Stummfilm verwendet, weshalb sich die Musik nicht an einem bereits vorhandenen Film orientieren musste, sondern Film und Musik gleichzeitig entstehen konnten.

Dem Stück liegen zwei entscheidende Kriterien zugrunde:

Zum ersten werden drei thematisch verwandte Filmschleifen mit drei Projektoren auf unterschiedliche Flächen projiziert; zweitens soll der Film nicht permanent von Anfang bis Ende des Stückes präsent sein.

Die Filmschleifen, die manchmal gleichzeitig erscheinen, thematisieren die Verbindung von Film und Musik. Was beim Tonfilm durch die Synchronisation von Bild und Ton im Filmstreifen selbst eine Absolutheit erzwingt, stellt sich beim Stummfilm mit Live-Musik als nur eine von vielen Möglichkeiten dar. Diese Ungebundenheit ergibt sich einerseits durch parallel laufende Filmschleifen zu "nur einer Musik", andererseits erlaubt die Schleifenform Filmwiederholungen, die durch die Musik stets neu kommentiert werden. So entsteht eine Situation von ständiger Kopplung und Entkopplung der beiden Medien.

Der Verbindung selbst liegt ein musikalischer Gedanke zugrunde, dessen Dramaturgie extrem vereinfacht wurde: zunehmend/Anspannung, abnehmend/Entspannung und unbeweglich/Statik. Die aus dieser Vereinfachung entstandene Musik kommentiert die sich zufällig ergebenden Stellen der Filmschleifen mit immer neuer Expressivität.

Ein weiterer Faktor ist die zeitliche Struktur. Durch Projektoren mit variabler Filmgeschwindigkeit (3,6,9,12,18 oder 24 Bilder pro Sekunde) lassen sich die Filme mit der Musik ideal verbinden. Die gliedernde Funktion des Filmschnitts wird außerdem ständig von der gliedernden Funktion der Musik erwidert.

Das zweite Ausgangskriterium betrifft die Form bzw. das Zusammenspiel von Film und Musik. Es wurde formal enthierarchisiert, d.h. die Musik basiert nicht auf einem Film oder umgekehrt, sondern die Form entsteht mit beiden Medien aus einem Prozess: Es gibt 21 "Schleifen”, von denen sechs mit Film gekoppelt sind. Diese Schleifen wurden zerlegt und miteinander verschachtelt, woraus sich ein fragmentorientierter Zusammenhang des Ganzen ergibt.

Für jede der 21 Schleifen wurde Basismaterial aus einer dreidimensionalen Matrix generiert. In jeder Matrix wurden in einer Art "Spaziergang” die Koordinaten und somit Veränderungen des musikalischen Materials festgelegt:

Die Parameter der Vektoren x,y,z wurden unterschiedlich gestaltet. Neben der oben genannten "vereinfachten Dramaturgie" kommen noch die Parameter Dichte, Gestalt (z.B. parallele oder sich kreuzende Glissandi), Ambitus der Gestalt, Dauer einer Gestalt, Tempo, Summen (die durch ihre unterschiedliche Teilung mehrere Gestalten zeitlich festlegen), die Art ihrer Teilung (z.B. könnte aus der Summe 7 bei der Teilung in 1 und 2 die Kombination 2 1 2 2 entstehen), und die kleinste rhythmische Einheit der Teilung hinzu. Die Auswahl dieser Parameter dient der Vorstellung einer "Klangwelt mit mikrointervallischen Gestalten", deren Hauptkriterium darin besteht, die temperierte Stimmung nicht durch eine andere zu ersetzen, sondern mit allen denkbaren Mikrointervallen zu färben.

Über das Filmmaterial

Zum Filmmaterial gehört in erster Linie das Filmformat. Die Super-8 Filme haben eine bestimmte Qualität bzw. Aura, die spezifisch und deshalb unersetzbar ist: das Flimmern, das Rattern des Projektors, die Vielfalt der Projektionsflächen, die sich bewegenden "schmutzigen Fäden” im Bild.

Nicht zuletzt sind die Super-8 Filme durch die Zugänglichkeit für Amateure geprägt. Deshalb war die Freude groß, als ich Super-8 Filme meiner Familie entdeckte. Drei Szenen aus dieser Sammlung wurden isoliert und neu gefilmt. Das Flimmern im Filmbild selbst, das durch unterschiedliche Geschwindigkeiten bei Projektion und Aufnahme entsteht, ergibt zusätzlich zu Filmgeschwindigkeit und Filmschnitt eine dritte Filmzeitstruktur und wurde dementsprechend bewußt manipuliert.

.Beispiele einer
"Schleife” innerhalb
einer dreidimensionalen
Matrix

Stand
Autor/in
Alan Hilario