Das Komponieren bringt mich häufig dazu, das zu singen, was ich innerlich höre, so dass fast alles, was in einer Partitur steht, vorher durch meine Stimme gegangen ist. Im Gegensatz zu den Cembalo-Komponisten im Barock- von denen man sagt, dass sie nur mit Hilfe der Tastatur schreiben konnten – komme ich immer wieder auf die Stimme zurück, um zu überprüfen, was meine Imagination diktiert, oder um zu erforschen, was ich über die fruchtbare Verbindung von Stimme und Gehör noch nicht weiß. Ich singe spontan und genieße diese Übung – ohne ihr Bedeutung beizumessen oder sie niederzuschreiben – wie eine willkommene Innenschau, ähnlich einem Gesang ohne Worte, der meiner Seele Richtung gibt, meinen Geist befreit und mich zu Neuem führt.
Ich bediene mich der Stimme, um den Sängern und Instrumentalisten das zu demonstrieren, was ich im Detail aufgeschrieben habe: es ist Teil meines "Laboratoriums". Meine Partituren zu singen, ermöglicht einen lebendigen Dialog mit dem anderen und vermeidet eigene Fehler beim Schreiben der Musik, bei dem ich – eingestandenermaßen – nicht ganz vermitteln kann, was ich in Wirklichkeit suche. Die schriftliche Wiedergabe ist Teil meiner Forschungen und charakterisiert mein Werk, indem es mich das Imaginierte mit größter Genauigkeit festhalten lässt. Dennoch haben mich die Schwerfälligkeit meiner Prozesse – zu hören, zu zeichnen, in Partituren zu transkribieren und das Ergebnis zu überprüfen – sowie die Suche nach Neuansätzen oder auch der Wunsch, mit meinen alten Routinen zu brechen, dazu gebracht, Musik mit den Musikern selbst zu kreieren. In meinem Fall bedeutet das, den Arbeitstisch zu verlassen und – wie ein elektroakustischer Komponist oder ein Maler oder Bildhauer – die Materie und – in der Folge – den Schaffensakt, das künstlerische Handwerk "in vivo" zu suchen.
Teilweise leitet sich das aus meiner eigentümlichen Arbeitsmethode ab, die sich aus dem inneren Hören des Imaginierten entfaltet, um es später in ein reales Produkt zu verwandeln, eine Methode, die ich in meinen Kursen angewendet habe (in Spanien, Frankreich, Mexiko oder Norwegen), wo ich den auf einer Couch liegenden Studierenden aufforderte, musikalische Fantasien zu entfalten, um ihn gleich danach dazu anzutreiben, mit Hilfe von Instrumentalisten die Musik seiner Imagination zu verwirklichen.
Meine Erfahrung mit der Materialisierung von Musik war in den letzten Jahren sehr reich: Es gab verschiedene Kreationen mit dem jungen Orquesta de Cuerdas de Ensenada (Baja California), eine von Radio Educación live übertragene Radiosendung – Hörspiel -, in der ich in Anwesenheit des Publikums im Saal innerhalb einer Stunde ein kurzes Stück kreierte, als ob es sich um ein multiples Schachspiel handelte -Simultan zu dritt für drei Cellisten -, schließlich auch Búsica, in Erinnerung an die Opfer vom Bahnhof Atocha in Madrid, wo ich alle Stimmen und instrumentalen Klänge aufgenommen habe.
Vor einigen Jahren überraschte mich der Vorschlag von Irvine Arditti, im Konzert mit dem Arditti Quartet zu singen. Warum nicht? Jetzt, mit 63 Jahren, wenn die Grenze für mich, den Rebellen der sechziger Jahre, erst erreicht ist, "when I´ll be sixty-four"?
- Festivaljahrgänge
- Donaueschinger Musiktage 2006
- Themen in diesem Beitrag
- Julio Estrada, Quotidianus für Stimme und Streichquartett
- Verwandte Beiträge
- Bericht über "Hum", Werke des Jahres 2002: Julio Estradas "Hum"