Viele Künstler träumen davon, mit ihrer Musik einmal die großen Bühnen der Welt zu entern, Generationen zu prägen und ein musikalisches Erbe zu hinterlassen, das die Musiklandschaft nachhaltig verändert. Nur den Wenigsten soll dieser Traum erfüllt werden. Noch weniger Musiker schaffen es dann, in gleich mehreren Bands Musikgeschichte zu schreiben.
Chris Cornell war gleich in drei Bands, die Geschichte schrieben. Und er war als einzigartiger Frontmann, Texter und Sänger entschieden dafür verantwortlich.
Die erste Grunge-Band mit Majorlabel-Vertrag: Soundgarden als Architekten des Grunge
Grunge-Hauptstadt Seattle: Es ist 1984 und Grunge gibt es eigentlich noch gar nicht. Chris Cornell, ansässig in der Punkszene der Stadt, spielt damals noch Schlagzeug in einer Band, die schon bald, um ein paar weitere Mitglieder ergänzt, zu Soundgarden werden soll.
Deren erstes Album ist, zumindest dem Namen nach, „Ultramega OK“ und 1988 Sinnbild der Frühphase des Genres, dessen prominenteste Vertreter Nirvana noch nicht einmal gegründet sind.
Soundgarden sind von Anfang an die härteste unter den Grunge-Bands der Seattle-Schule. Und die erste mit einem Majorlabel-Vertrag, die maßgeblich zur Popularisierung des Genres beiträgt.
Komplexe Arrangements, harte Riffs: Soundgarden sind keine leichte Kost
Soundgarden leben von der rohen Energie, die ihre Musik ausstrahlt: Komplexe Songstrukturen, ungewöhnliche Taktarten und oftmals experimentelle Ansätze zeichnen den harten Sound der Band aus.
Die Texte sind multidimensional, voller Metaphern und die Motive düster bis existenziell. Keine leichte Kost, möchte man sagen. Doch genau darin liegt der Reiz an Soundgarden, die mit ihrem Hauch von Psychedelic ein besonders intensives Musikerlebnis heraufbeschwören.
Die Musik von Soundgarden driftet gerne in das Beunruhigende ab und lässt stets Raum für Interpretation. Nicht selten bleibt beim ersten Hören ein Fragezeichen zurück – das macht für Fans bis heute den Reiz der Band aus.
Ein schwarzes Loch: Cornell und seine psychischen Probleme
Soundgardens introspektive Texte, die häufig philosophisch um die menschliche Existenz kreisen, kommen nicht von ungefähr: Depressionen und Angststörungen sind schon seit Cornells Jugend fester Bestandteil seines Lebens. Einen Hehl machte er nie daraus.
Cornell, ironischerweise Sohn eines Apothekers, geht darüber hinaus zu jeder Zeit seiner Karriere offen mit seiner Drogen- und Alkoholsucht um. 2002 entzieht er – ganz schafft er den Absprung jedoch nie.
Der größte Hit von Soundgarden, „Black Hole Sun“, entsteht Cornell zufolge auf einer kurzen Autofahrt, nach deren Ende er ihn fast an einem Stück herunterschreibt. Surreal und melancholisch ist der Song bis heute Sinnbild für die Essenz des Grunge.
Temple of the Dog: Die Geburt einer Supergroup
1990 formiert sich nach dem Drogentod von Cornells ehemaligem Mitbewohner, Rockmusiker Andrew Wood, eine Supergroup des Grunge: Zusammen mit Soundgarden-Schlagzeuger Matt Cameron und einigen Musikern von Mother Love Bone, die sich gerade als eine gewisse Band namens „Pearl Jam“ neu sortieren, gründet sich „Temple of the Dog“ – für genau ein Album.
Letztlich landet auch Pearl Jam-Sänger Eddie Vedder als Gast auf dem Album, da sich die Aufnahmen mit denen für Pearl Jams legendäres Debüt „Ten“ überschneiden. Das Duett „Hunger Strike“ wird zum bekanntesten Song des Tributprojektes, die Symbiose der beiden einzigartigen Stimme zum Gänsehautmoment.
Schon bald wird die neue Band um Vedder zu den neuen Stars des Grunge – Soundgarden rücken hinter neu formierten Bands in die zweite Reihe des plötzlichen Mainstream-Phänomens Grunge.
Um Soundgarden dagegen wird es ruhiger, bis 1997 schließlich das Bandende folgt. Die Bandmitglieder verstreuen sich in alle Richtungen, Matt Cameron beispielsweise steigt bei Pearl Jam ein. Und Chris Cornell wirft sich in ein neues Projekt, eine weitere Supergroup.
Die Rebellion findet einen neuen Anführer: Audioslave entstehen
Grunge trifft auf Funk Metal: Chris Cornell trifft auf die Instrumentalisten von Rage Against the Machine: Die Geburtsstunde der Supergroup Audioslave ist die Verbindung von musikalischen Welten, die bislang kaum Berührungspunkte hatten.
Wie so oft ist es ein nach der Gruppe benanntes Album, dass das Gesicht der Band bis heute prägt: Das Erstlingswerk „Audioslave“ beheimatet mit „Like a Stone“, „Cochise“ oder „Show Me How to Live“ die bis heute großen Hits der Band.
Melodische Musik, dynamische Instrumentierung und deutlich zugänglichere Texte als noch bei Soundgarden zeichnen Audioslave aus. Mit einem direkten, effektgeprägten Gitarrensound schlägt die Band einen positiven und hoffnungsvollen Ton an, der weit weniger sozialkritisch ist, als das bei beiden Vorläufer-Bands der Fall war.
Mainstream-Appeal ohne den Starfaktor
Die Kritik ist damals jedoch wenig euphorisch, lässt die Band doch ihrer Meinung nach ungenutztes Potenzial brach liegen. Energetisch seien sie, aber wenig innovativ. Viel zu nichtssagend, schreibt die Presse im Ausland, die ähnlich politische Texte wie bei Rage Against the Machine erwartet hatte. Dem Erfolg tut all das keinen Abbruch.
Audioslave bringen den Mainstream-Appeal mit, ohne zu Überstars zu werden, wie andere Post-Grunger und Alternative-Rocker der Nullerjahre. Bis zu ihrem Ende 2007 bleiben sie oft unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit, in Szenekreisen haben sie jedoch bis heute Legendenstatus inne. Parabolisch für Chris Cornell.
Ein Hadern mit sich selbst: Der Mensch Chris Cornell
Schon 1999 begann Chris Cornell, parallel zu seinen Bandprojekten, eine Solokarriere. Auch hier zeigte er sich als Meister der Transformation: Stets wandelbar, lieferte er den Titelsong zum Bond-Klassiker „Casino Royale“ oder experimentierte auf einem Album mit Produzent Timbaland.
Mit seiner Rolle als Mittelpunktsfigur hadert er jedoch immer wieder als typischer Einzelgänger. In einem intimen Interview mit Loudersound spricht er darüber, dass er sich nicht als „anständiger Rockstar“ wie beispielsweise Alice Cooper sieht – und froh über seinen Platz in der zweiten Reihe ist.
Als Frontmann steht er im Mittelpunkt, ist Rampensau durch und durch, jedoch auf ganz andere Art als andere Showgrößen der Rock-Garde seiner Ära. Fast subtil nimmt er das Publikum durch seine bloße Präsenz und Stimme in Beschlag, braucht dafür keine großen Gesten.
Auch wenn Cornell sich selbst in Interviews regelmäßig als antisozial bezeichnet, engagiert er sich Zeit seines Lebens für humanitäre und soziale Zwecke: Er fördert Kunst und Kultur, setzt sich für Obdachlose ein und gründet mit seiner zweiten Frau eine Stiftung für psychische Erkrankungen, die auch nach seinem Suizid 2017 weiter Bestand hat.
Eine Stimme als Bindeglied für drei Dekaden Musikgeschichte
Was ist denn nun das Opus Magnum Cornells? Welches seiner Projekte das wegweisendste? Eine Frage, an der sich Musikliebhaber seit Jahren die Zähne ausbeißen und die bis heute Zankapfel zahlreicher Debatten ist.
Dabei lässt sich ein Vergleich nur schwer ziehen, so unterschiedlich sind die Bands und Werke Cornells in Sound, Lyrik und Botschaft. Doch eines eint sie: die markante, vier Oktaven umfassende Stimme von Chris Cornell.
Es gibt nicht viele Sänger, deren Stimmfarbe einem schon bei der ersten Sekunde ins Ohr geht, deren Stimme etwas derart Unverwechselbares an sich hat, dass kein Zweifel bleibt.
Chris Cornell war einer von ihnen. Er wurde 52 Jahre alt.