Eine arrivierte Malerin, wohnhaft in den USA, kehrt anlässlich einer Ausstellung in ihre Heimat Norwegen zurück. Die Kuratorin wünscht, dass sie ihr weltbekanntes Triptychon „Kind und Mutter“ mit weiteren Bildern zum Thema ergänzt. Die Malerin, von der uns die Autorin Vigdis Hjorth nur den Vornamen Johanna verrät, stimmt zu, verliert aber bald das Interesse an der Ausstellung.
Eigentlich ist sie doch nur wegen ihrer Mutter zurückgekehrt, diese Gewissheit festigt sich in ihr. Die Mutter ist ihr ein Rätsel, da sie sich stets vor ihr zurückzog, den Kontakt zu ihrer Tochter mied. Das war von Anfang an so und verstärkte sich, als die Tochter ein Talent zum Zeichnen entwickelte.
Denn der Vater hatte eine Karriere als Juristin für sie vorgesehen. Wenn Johanna Aufschluss über ihre Mutter wollte, musste sie ihre Fantasie bemühen. Das ging schon ein Leben lang so. Deshalb heißt der Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“. Es gibt zu viele davon.
Tagebuchartige Skizzen über eine abweisende Mutter
Der Roman nun besteht aus tagebuchartigen Texten. Darin beschreibt Johanna ihre Mutter, wie sie sie in sich spürt: eine Infektion von Traurigkeit und Kälte, Distanz und Abwehr. Kein Wunder, denn die Mutter lehnt auch nach dreißig Jahren jeden Kontakt ab. Inzwischen aber ist Johanna 60 Jahre alt, Witwe und selbst Mutter eines Sohnes, und sie lässt sich nicht mehr wegschicken, abspeisen, ausschimpfen wie als Kind.
Dieses Mal will sie es wissen. Sie schreibt in ihr Tagebuch:
Johanna will, dass das aufhört. Zwischen Mutter und Tochter kommt es alsbald zu einem Kampf, fast auf Leben und Tod.
Die verheerenden Verhaltensmuster der Eltern überwinden
Die in Norwegen überaus prominente Autorin Vigdis Hjorth erwähnt in einem Interview, dass ja bekannt sei, dass sie sich mit ihrer Herkunftsfamilie überworfen habe. Trotzdem handele es sich bei ihrem Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ nicht um Autofiktion, das Buch sei kein Memoir.
Zentral für ihren Roman sei vielmehr die Frage gewesen: Wie schafft man es, verheerende Verhaltensmuster der Eltern nicht an die nächste Generation weiterzugeben? Wie schafft man es selbst, mit diesen Verletzungen zu leben? Die Antwort in aller Kürze: Dies sei eine sehr, sehr schwere Arbeit. Die Bereitschaft zu klarem, ehrlichem Denken und Fühlen sei dafür Voraussetzung.
Eine Eskalation voller Windungen und Wiederholungen
Der Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ beschreibt diese innere Arbeit als äußeren Kampf mit der tatsächlichen Mutter. Johanna ringt um deren Aufmerksamkeit. Und da die Mutter darauf nicht reagiert, wird die Tochter immer bedrängender. Sie verfolgt ihre Mutter auf der Straße, sie wirft ihr ein Fenster ein, sie stellt den Fuß in die Tür.
Die Sache eskaliert. Wie, wird hier nicht verraten. Sie eskaliert in etwa so wie Maurice Ravels Orchesterstück „Bolero“. Die Spannung steigt in einem progressiven Crescendo bis zum großen Finale. Ravels Thema beginnt mit dem Rhythmus, den die kleine Trommel schlägt, was an einen Militärmarsch erinnert, einen bevorstehenden Kampf.
Melodie, Harmonik und Rhythmus bleiben über das ganze Stück hinweg unverändert. Und so liest sich auch Hjorths Roman: Sie bearbeitet darin ein Thema in vielen Versuchen, in vielen Windungen und Wiederholungen, in einem an Intensität gewinnenden Ringen um Erlösung. Die Mutter „muss sich doch Fragen stellen“, heißt es im Roman.
Vigdis Hjorths Sprache ist unverblümt, einfach, aber tiefreichend. Nicht der kleinste Misston verzerrt die zunehmend verzweifelte Suche ihrer Heldin nach dem Blick der Frau, die sie geboren hat. Die Wiederholungen, die dabei nötig sind, erzeugen beim Lesen nicht den Eindruck der Redundanz, sondern es ist, als bohre man sich zusammen mit der Autorin in diesen Schmerz eines elementaren Verlassenseins hinein. Ein Roman mit der Qualität einer wichtigen Erfahrung. Was gäbe es Besseres über ein Buch zu sagen?