In seinem Testament verfügte Wolfgang Herrndorf: „Niemals Germanisten ranlassen.“ Nun ist es doch passiert. Herrndorfs Werk ist inzwischen Gegenstand akademischer Forschung. Und die erste Biografie ist erschienen – verfasst von dem Germanisten und Journalisten Tobias Rüther.
Diese Lebens- und Werkschau läuft auf einen durchaus steilen Schlusssatz zu: Wolfgang Herrndorf sei der größte deutschsprachige Schriftsteller seiner Generation gewesen. Solche Superlative sind in der Regel heikel. Würde Herrndorfs Schriftstellerkarriere als die ungewöhnlichste der letzten 50 Jahre bezeichnet, könnte man allerdings leicht zustimmen. Aber eins nach dem andern.
Gewöhnliche Mittelschichtkindheit und große künstlerische Begabung
Solide schildert Tobias Rüther zunächst Herrndorfs Kindheit und Jugend im Holsteinischen Norderstedt. Gleich im Eröffnungskapitel macht er Motive aus, die ihn als Künstler und Schriftsteller prägen und begleiten werden – etwa der Blick aus dem Fenster des Kinderzimmers auf ein norddeutsches Feld.
Es taucht immer wieder auf, wenn Herrndorf später Buchcover gestaltet oder Geschichten schreibt. Hier scheint zum ersten Mal der Blick, gerahmt vom Fenster, zu einem Szenenbild zu werden, die Wahrnehmung sich zu verdichten und zu verfeinern.
1965 geboren, hat Herrndorf eine ziemlich gewöhnliche Mittelschichtskindheit; Rüther hat dennoch viel recherchiert und herausgefunden. Manchmal ist die Detailliertheit der Schilderung fast zu viel des Guten. Zwei wesentliche Facetten des Kindes arbeitet Rüther jedoch gut heraus, sie verweisen schon auf den jungen Mann: zum einen seine künstlerische Begabung, die Unbedingtheit, mit der er sich seinen Interessen widmet. Zum anderen eine fast beunruhigende Zurückgezogenheit.
In dieser Spannung spielt sich auch sein Kunststudium in Nürnberg ab, das ihn in „finsterste Verzweiflung“ treibt, wie Rüther schreibt. Zehn Jahre lebt er dort; er ist ein Außenseiter – sowohl in seinen altmeisterlichen Positionen als auch in seinem Verhalten.
Er reüssiert als Mitarbeiter der Titanic, gestaltet Buchumschläge für den Haffmanns Verlag. Herrndorf hat Erfolg als Satiriker, arbeitet wie besessen. Dennoch gerät er – auch privat – in eine Sackgasse. Und nimmt den Notausgang: 1996 zieht Herrndorf nach Berlin, stößt dort auf Gleichgesinnte, die zu seiner Familie werden.
Ungeheure Produktivität nach der niederschmetternden Diagnose „Hirntumor“
Die „höflichen Paparazzi“ – ein Kreis von jungen Intellektuellen, zu denen Kathrin Passig, Holm Friebe und Sascha Lobo gehören – treffen sich in einem eigens eingerichteten Internetforum und schlagen sich die Nächte in Berliner Kneipen um die Ohren. Herrndorf gibt die Malerei auf und konzentriert sich aufs Schreiben.
Rüther versucht, die Genese dieses radikalen Schnitts verständlich zu machen, und er zeichnet nach, wie gerade die digitalen Kommunikationskanäle für Herrndorf sowohl Schule wie auch Testlabor für seine Texte sind. Sein Roman „In Plüschgewittern“ ist ein erstes Ausrufezeichen. Er arbeitet parallel an mehreren Büchern – einem Jugendroman ebenso wie an einem hochkomplexen Spionageroman, als er 2009 die Diagnose „unheilbarer Hirntumor“ bekommt.
Nun beginnt die vielleicht rätselhafteste und unglaublichste Passage seines Lebens. Innerhalb kürzester Zeit schließt er den Roman „Tschick“ ab – er wird zu einem Megabestseller. Er beendet auch den Roman „Sand“ und arbeitet sogar an einem dritten Manuskript. Parallel entsteht das Internettagebuch „Arbeit und Struktur“, sein bewegendstes Werk, weil es von einem geradezu unerschütterlichen Esprit getragen wird, von einer unbeugsamen Schärfe im Urteil, einer Redlichkeit, mit der er über seine Arbeit und seine Vergangenheit Auskunft gibt.
Das Tagebuch dokumentiert aber auch die zunehmende Düsternis angesichts der unaufhaltsamen Einschränkungen durch die Krankheit. Am 27. August 2013 erschießt sich Wolfgang Herrndorf im Alter von 48 Jahren am Ufer des Hohenzollernkanals in Berlin unweit seiner Wohnung.
Künstlerischer Weg mit faszinierenden Brüchen
Tobias Rüther gelingt es überzeugend, den einerseits sehr geradlinigen künstlerischen Weg Herrndorfs nachzuvollziehen, aber auch die faszinierenden Brüche. Er widmet sich nicht nur ausführlich den inzwischen kultartig verehrten Büchern des Autors, sondern kenntnisreich auch den malerischen Arbeiten. Und er bettet Herrndorf ein in ein künstlerisches Umfeld, das ihn in seinen letzten Monaten auf eindrucksvolle Weise aufgefangen und in seinem Tun unterstützt hat.