Terhi Kokkonens geheimnisvoll-schillernder Roman „Arctic Mirage“ ist das faszinierende Porträt einer dysfunktionalen Beziehung.
Am Anfang steht ein Mord: In einer eiskalten Winternacht bringt Karo ihren Mann Risto um. Ein Mord – in acht Zeilen mitleidslos erzählt. So beginnt der Roman „Arctic Mirage“ von der Finnin Terhi Kokkonen, der dann zurückspringt und erzählt, was in den Tagen vor dem Unglück geschah. Schauplatz ist ein Luxushotel im finnischen Lappland. Dort sind Karo und Risto gestrandet, nachdem sie auf dem Rückweg aus dem Urlaub nach Helsinki einen Autounfall hatten.
Risto sagt, der Wagen sei auf einer eisglatten Straße ins Schleudern geraten. Karo sagt, ein blauer Lieferwagen sei ihnen entgegengekommen und sie mussten ausweichen. Es ist nicht das erste und bei weitem nicht das letzte Mal, dass sie sich uneinig sind über die Ereignisse. Ihre gesamte Beziehung ist ein einziges Tauziehen, gelegentlich gelöst durch Sex.
Eine Ehe als Horrorroman
Ein Luxushotel in einsamer, schneebedeckter Winterlandschaft im Norden Finnlands ist das perfekte Setting für diesen abgründigen Horrorroman über eine Ehe. Die Erzählperspektive bleibt anfangs nah bei Karo. Sie ist genervt von dem Unfall, von den Umständen – und von Risto. Gleichzeitig ist sie stolz, dass sie es versteht, ihre Wut recht lange zu zügeln. Und dass sie sich einen mehrtägigen Zwischenstopp in einem so schönen Hotel mühelos leisten können.
Aber da ist stets eine diffuse Bedrohung, die mit Risto zusammenhängt. Auf einem Foto sieht sein Schatten aus „wie ein buckliges Ungeheuer“. Außerdem will er ständig wissen, wo Karo ist und was sie tut. Vielleicht hängt es mit dem Unfall zusammen: Er hat einen Schock, fordert Karos Aufmerksamkeit und Fürsorge, weigert sich, seine Halskrause abzulegen, obwohl er nicht verletzt ist.
Seit er seine erfolgreiche Software-Firma verkauft hat, liest er Unmengen an Selbsthilfebüchern und benutzt einen daraus entliehenen Achtsamkeitsjargon – dennoch ist sein Verhalten gegenüber Karo nur auf den ersten Blick verständnisvoll, tatsächlich oftmals passiv-aggressiv.
Eine schlechtgelaunte Rezeptionistin und ein übergriffiger Arzt
Es ist eine rätselhafte Beziehung, die man nur langsam durchdringt. Nach knapp 50 Seiten kommt eine weitere Perspektive hinzu: Die meist schlecht gelaunte Sinikka arbeitet an der Rezeption des Hotels und hasst diesen Job. Die Gäste nerven, die despotische Chefin zwingt sie, eine samische Tracht zu tragen, um den Gästen folkloristische Authentizität zu vermitteln.
Karo wirkt auf Sinikka verwirrt, leicht hysterisch; Risto aufdringlich und übergriffig. Später wird es noch eine dritte Perspektive geben: die des depressiven Hotelarztes. Er wirkt zunächst sympathisch, aber es erregt ihn auch, dass er die Macht hat, Karos beim Unfall gebrochene Nase zu richten.
Geschickt etabliert Terhi Kokkonen in der winterlichen Abgeschiedenheit Lapplands eine geheimnisvolle, fast klaustrophobische Atmosphäre und streut Zweifel vor allem an Karos Zurechnungsfähigkeit: Sie hat ihre Tabletten gegen eine Psychose seit einigen Tagen nicht mehr genommen und wirkt zunehmend fahrig.
Ständig findet sie ihre Sachen nicht mehr. Hat sie sie wirklich verlegt? Oder hat Risto sie versteckt? Und was ist mit dem blauen Lieferwagen? Niemand außer Karo will ihn gesehen haben, aber sie beharrt darauf, dass er da war. Eines Tages entdeckt sie ihn im Ort und macht den Besitzer ausfindig.
Ein eiskalter Roman – brillant konstruiert
In dieser Begegnung entlädt sich zum ersten Mal die sorgsam aufgebaute Spannung, sie klärt, was es tatsächlich mit dem Unfall auf sich hatte. Durch sie zeigt sich die brillante Konstruktion dieses eiskalten Romans: Ein einzelnes Gespräch mit dem Fahrer verknüpft die Motive und Perspektiven zu einem stimmigen und überaus konsequenten Bild dieser Ehe – und einer Gesellschaft voller Gewalt, Machtdemonstrationen und Manipulationen.
Überall begegnet vor allem Karo einer wenigstens latenten Misogynie: beim Polizisten, der der Aussage ihres Mannes glaubt, obwohl er und nicht sie unter Schock steht. Bei einer Freundin, die ihr sagt, sie solle erwägen, eine Paartherapie zu machen, wenn die Streitigkeiten mit Risto gewalttätig werden.
Und letztlich sogar bei ihrem Therapeuten, der ihr sagt, Männer fühlten sich von beruflich erfolgreichen Frauen einfach allzu schnell psychisch kastriert – und der damit rechtfertigt, dass Risto sie gewürgt hat. Am Ende wird klar: Karo ist nicht hysterisch, sie klammert sich verzweifelt an ihren Verstand.
Nur weil sie beharrlich daran glaubt, dass sie sich selbst noch trauen kann, findet sie einen Ausweg und überlebt. „Arctic Mirage“ ist ein raffiniertes und hochspannendes Debüt.