Buchkritik

Tanja Raich (Hg.) – Frei sein. Das Ringen um unseren höchsten Wert

Stand
Autor/in
Sandra Hoffmann

Die Autor:innen des Bandes „Frei sein“ begeben sich auf Spurensuche in ihrem eigenen Leben und gewähren überraschende Einblicke in zentrale Aspekte wie Konsum, Körper, Populismus, Arbeit, Klasse, Literatur und Liebe. Mit Texten unter anderem von Deniz Utlu, Anna Kim, Şeyda Kurt, Sven Pfizenmaier, Luna Al-Mousli, Ninia LaGrande, Franziska Hauser und Illustrationen von Nicolas Mahler.

Im Vorwort schreibt die Herausgeberin Tanja Raich:    

Freiheit. Es ist ein Wort, das beschadet und beschmutzt ist, das an den mörderischen Hohn im KZ erinnert, rechter Kampfbegriff geworden ist, Parole für jeden noch so kleinen Anlass, selbst wenn es um einen Impfstoff oder um die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn geht, ist am Ende wieder von Freiheit die Rede. (…) 

Freiheit. Das ist dieses Wort, das trotz allem treffend formuliert, wofür wir kämpfen müssen und wofür es sich zu kämpfen lohnt.  

Möglichkeiten und Abgründe von Freiheit 

Das nimmt einen sofort ein für diesen Band: dass jemand nicht nur die Möglichkeiten sieht, sondern auch die Abgründe, die sich hinter diesem großen Wort „Freiheit” verbergen. 

Für die Sammlung hat Tanja Raich 20 Menschen eingeladen, darüber zu schreiben, was für sie „frei-sein“ bedeutet.  

Es sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller dabei: Anna Kim, Franziska Hauser oder Deniz Utlu und Autoren und Autorinnen, wie Çigdem Akyol oder Linus Giese, die bisher mit Sachbüchern aufgefallen sind, aber auch Künstlerinnen, wie Sophia Süßmilch, die vor allem bildnerisch arbeitet, oder Aktivist*innen, wie Marlene Engelhorn.  

Diese Mischung ist einerseits gut, weil sie ein breites Spektrum an Haltungen, Geschlechtern, Klassenzugehörigkeiten und Herkünften abdeckt; aber die Ausdruckskraft, die Stringenz, die Zuspitzung der Texte ist dementsprechend heterogen. Maßgeblich auch die Qualität.  

Franziska Gänsler etwa schreibt ihren sehr persönlichen Essay Horse Power als wilden Ritt durch Literatur, Kino, Kunst, Kindheitserinnerung, Mutterschaft, Träume und Psychoanalyse, und irgendwie geht nichts zusammen – aber doch alles, weil sie eine gute Schriftstellerin ist, die unter dem Motto Freiheit & Kraft ihre eigenen Möglichkeiten als Frau auslotet, die im Traum auch ein Hengst sein kann. 

Freiheit in verschiedensten Kontexten  

Überhaupt sind die Motti, die jedem Text angefügt sind, eine schöne Sache für den Band. Sie weisen von vornherein eine Spur, was man erwarten kann, wenn man diesen oder jenen Text liest: Freiheit & Meinung, Freiheit & Körper, Freiheit & Queerness, Freiheit & Hoffnung. 

Die Kulturwissenschaftlerin Madita Oeming analysiert in ihrem Essay Pseudo-selbstbestimmt den Zusammenhang von Freiheit & Sex: 

Was ist weibliche Freiheit? 

Oeming befragt die Rolle der Frau in der Gesellschaft, in der wir gerade leben, sie fragt danach, wie Sprache unsere Rolle bestimmt, wie das Patriarchat es tut, aber auch danach, warum selbst Frauen die Sexualität von Frauen in gut und böse einteilen. Sie fragt, was der Feministische Blick gebietet und verbietet. Sie analysiert ihre Rolle als „weiße, akademisierte, heterosexuelle, nicht behinderte und also die privilegierteste aller Frauen“ und kommt doch zu dem Schluss: Sexuelle Freiheit geht anders.  

Ein wenig schade ist der verschenkte einladende Satz ihres Essays, „Ich musste sechsunddreißig Jahre alt werden, um zum ersten Mal halbwegs befreiten Sex zu haben“, der natürlich die Erwartung schürt, dass wir etwas darüber erfahren: wie befreiter Sex für sie geht, und wie es ihr gelang, dorthin zu kommen. Das tun wir nicht. 

Trotzdem gibt dieser Band einen sehr guten Überblick zu Fragen und Themen, die in diesen Zeiten unter den Nägeln brennen, wenn ernsthaft darüber nachgedacht wird, wo und warum „Freiheit” so viel zählt und wir Menschen uns noch entwickeln können, als Individuen und als Gesellschaft.  

Da geht noch was, verstehen wir, und fühlen uns bisweilen ziemlich angeregt, über uns selbst nachzudenken.  

Mehr Literatur der mitwirkenden Autor:innen

Gespräch Neue Sichtweisen auf ein präsentes Körperteil – Anthologie „Brüste“ von Linus Giese und Miku Sophie Kühmel

Brüste werden angeschaut, kommentiert, in der Werbung und im Film oft sexualisiert. Neue Sichtweisen möchte die Anthologie „Brüste“ geben.

SWR Kultur am Morgen SWR Kultur

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Sandra Hoffmann