Da, wo Donald Trump seine Wähler rekrutiert, spielt Tess Guntys in den USA mit dem National Book Award ausgezeichneter Debütroman „Der Kaninchenstall“: Im abgehängten Rust Belt Amerikas, genauer in dem kleinen Ort Vacca Vale, sind ihre verlorenen, verstörten, einsamen Figuren zu Hause – und dort geschehen Zeichen und Wunder, ereignen sich Abstürze und Aufstiege.
Den Ort Vacca Vale gibt es nicht. Und er könnte doch fast überall sein im so genannten Rust Belt der USA, jenen von Industrieschwund und Wirtschaftskrisen gebeutelten Landstrichen.
Tess Guntys Debütroman „Der Kaninchenstall“ spielt in diesem fiktiven Vacca Vale, gelegen im realen Indiana, bevölkert mit Figuren, denen der amerikanische Traum wie ein Märchen aus vergangenen Zeiten vorkommen muss.
Der Kaninchenstall ist genau genommen ein Wohnblock, es ist dort eng, und es geht zuweilen rabiat zu. Hier leben zusammengepfercht Tess Guntys Protagonisten, manche davon haben nur Gastauftritte, andere stehen im Zentrum des Romans. Allen voran die achtzehnjährige Tiffany, die sich Blandine nennt und ein Faible für Hildegard von Bingen und überhaupt das Mystische entwickelt.
Blandine ist wie ihre drei männlichen WG-Genossen in Pflegefamilien groß geworden. Sie ist hochbegabt, aber ihre vielversprechende Zukunft hat sich nach der unglücklich endenden Affäre mit einem charismatischen Lehrer erledigt. Sie schmeißt die Schule, schlingert durch ihr Leben, arbeitet in einem Diner, um ihr WG-Zimmer zahlen zu können, und wird von allen, die ihr begegnen, auf fast unheimliche Weise begehrt.
Das mit den Tieropfern fing an, als wir uns alle in Blandine verliebten.
Erzählt einer ihrer Mitbewohner.
Letzten Winter, im Kaninchenstall. Vor einem halben Jahr. Vielleicht wegen des goldenen Flaums ihrer Beine. Vielleicht weil sie das einzige Mädchen ist. Vielleicht war uns einfach langweilig. Auch wenn wir alle ihren ausgedachten Namen bescheuert finden, immer noch, und nicht mal die Liebe konnte was daran ändern.
Die Tieropfer werden noch eine gewisse Bedeutung erhalten. Wie ohnehin bei Tess Gunty alles sehr bedeutungsvoll ist: Die beschriebenen Orte sind nicht nur Szenerien, sondern Ausdruck des Seelenlebens der Figuren. Der Ausverkauf von Vacca Vale ist freilich ein Symbol für das, was in den USA in den letzten Jahrzehnten schiefläuft.
Guntys Heldinnen und Helden sind nicht nur ein bisschen aus der Balance, sondern schier unerreichbar verloren. Und wer hier durchknallt, tut es gleich richtig. Too much? Ja und nein. Gunty kann durchaus schreiben. Es gibt gelungene Passagen, etwa wenn sie die Vorgeschichte von Blandines Leben als zwiespältige Missbrauchsgeschichte in Form einer klassischen Erzählung ausbreitet – eigentlich hätte diese schon einen eigenständigen Roman ergeben.
Oder wenn sie uns ins verhuscht-unscheinbare Leben von Joan Kowalski mitnimmt, die für ein Nachrufportal im Internet tätig ist und beleidigende Kommentare aussortieren soll. Da ist Elsie Blitz, ein ehemaliger Kinderstar, die von ihren Fans noch in betagtem Alter als American Sweetheart verehrt wird – und einen eigenen ironischen Nekrolog auf sich selbst verfasst.
Ihr Sohn Moses kann darüber allerdings nicht lachen. Er hat diese Rabenmutter ertragen müssen und sinnt auf Rache. Und weil Joan Kowalski seinen bitterbösen Kommentar zum Tod der Mutter löscht, wird sie zum Ziel seiner Wut und seiner leicht pathologischen Auftritte.
Manchmal malt Moses Robert Blitz – einziges Kind von Elsie Jane McLoughlin Blitz – seinen ganzen Körper mit der Flüssigkeit aus kaputten Knicklichtern an, verschafft sich Zutritt zum Haus des Feindes und weckt den Feind auf. Dann zappelt er in der Dunkelheit herum, nackt und leuchtend.
Er will keinen ernsthaften Schaden anrichten. Er will die Leute nur aufziehen.
Man sieht: Es wimmelt ganz schön heftig in diesem Kaninchenstall; Gunty zaubert tausend Motive und Geschichten aus dem Hut. Eigentlich stecken mehrere Bücher in diesem einen. Tess Guntys Ehrgeiz scheint es zu sein, alles, was sie in Creative-Writing-Kursen gelernt hat, gleich in ihrem ersten Buch unterzubringen: unterschiedlichste Textsorten, Redeweisen und Erzählformen, etliche Perspektivwechsel, komplex gestaltete, aber doch nie ganz zugängliche und ausgearbeitete Figuren, surreal erscheinende Begebenheiten, die experimentell inszeniert werden, und sogar Illustrationen.
Ganz schön überladen und überlastet, nicht zuletzt thematisch und motivisch: Es gibt erwähnte Tieropfer und einen im Wahn begangenen Ritualmordversuch, eine MeToo-Story und den Kampf gegen Umweltzerstörung, verwahrloste Kindheiten und Klassenfragen, Hildegard von Bingen geistert raunend durch das Buch, und Psychopathen tragen die Last der Geschichte auf ihren Schultern.
Blandine wird all das aufgebürdet, und am Ende von ihrer Schöpferin zur Märtyrerin gemacht. Mit den Gedanken an die Mystikerin Teresa von Ávila, in deren Visionen ein Englein ihr Herz durchbohrt, wird Blandine selbst, ja, einer Transverberation, einem mystischen Einswerden mit dem Göttlichen, unterzogen:
Sie ist erst achtzehn Jahre alt, aber Blandine Watkins hat sich die längste Zeit ihres Lebens gewünscht, dass dies geschehen würde. Ziege, Junge, Nachbar, Fremder, Kaninchen, Falke, Holzfäller, Baum, Waise, Mutter – als sie sich selbst verlässt, ist sie alles.
Gut ist das Buch in den Details, in den knappen Charakterisierungen vor allem der Nebendarsteller, denen Gunty mehr Gewicht hätte verleihen dürfen. Die Einsamkeit und Ungewissheit, denen fast alle Figuren ausgesetzt sind, wird anhand von kleinen Gesten erzählt.
Man hält sich fest an einer Fernsehserie aus der Kindheit oder einem einstigen, vermeintlich idyllischen Zustand von Vacca Vale, als noch alles heil schien und der große Autobauer Zorn die schützende Hand über die Einwohner hielt. Zugleich ist die Firma Zorn verantwortlich nicht nur für den Niedergang des Ortes, sondern auch für eine große Umweltkatastrophe. Alles hängt mit allem zusammen.
Die Literaturkritik in den USA und die Jury des National Book Award hat wohl der kompositorische Wagemut und die handwerklich reife Verzahnung der unterschiedlichen Erzählstränge und -ebenen des „Kaninchenstalls“ überzeugt.
Beeindruckend ist das durchaus, aber eben mitunter auch ein wenig aufdringlich; souverän, aber zugleich ein bisschen schematisch; gut erzählt, aber leider auch zu überbordend konstruiert und kalkuliert. Es ist ein Debüt, das Perfektion ausstrahlt. Und am Ende trotz allen Aufwands etwas konturlos bleibt.