Buch der Woche

Michael Köhlmeier - Die Märchen

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Teufeleien und Zauberei, sprechende Tiere und klagende Tische – all das gibt es nur im Märchen, einem der Gegenwart etwas abhanden gekommenen Genre.

Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier aber hat das Genre wiederbelebt und in den vergangenen Jahren rund 150 neue und beeindruckend zeitlose Märchen geschrieben, die berückend schön und zuweilen etwas gruselig, dann wieder verwunderlich oder erhellend sind.

Märchen sind die große Leidenschaft von Michael Köhlmeier

Der Autor und begnadete Erzähler Michael Köhlmeier wurde 1949 in Hard am Bodensee geboren. Neben etlichen Romanen – zu den bekanntesten zählen „Abendland“, „Zwei Herren am Strand“ und „Bruder und Schwester Lenobel“ – hat er eine alte Kunst wiederbelebt: Das Nacherzählen von alten Sagen, Mythen und Märchen.

Nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Fernsehen konnte man sich von seiner sanften und mitreißenden Stimme in die Fremde und die Vergangenheit entführen lassen. Den Märchen gehört seine große Leidenschaft.

Autor Michael Köhlmeier
Autor Michael Köhlmeier

Die Märchen spielen in seinem ganzen Werk eine bedeutende Rolle. Letztes Jahr hat er im Haymon Verlag einen Essay unter dem Titel „Von den Märchen. Eine lebenslange Liebe“ veröffentlicht.

Der bibelschwere Märchenband wurde illustriert von Nikolaus Heidelbach

Zum 70. Geburtstag hat Michael Köhlmeier sich und uns nun mit einem ganz besonderen und dazu noch besonders schön gestalteten Prachtband beschenkt: „Die Märchen“ ist bibelschwer.

Auf 800 Seiten sind seine im Laufe der Jahre entstandenen Märchen versammelt, illustriert von einem Meister seines Fachs, von Nikolaus Heidelbach. Ein kongeniales Paar.

Ein Edelmann wird vom Glück verfolgt

Der Edelmann Gherardino lebte einst in Venedig, gesegnet mit allem Glück, das sich nur vorstellen lässt – redegewandt war er und so beliebt, dass jede und jeder ihn bewunderte.

Für seinen Wohlstand musste er nicht im Schweiße seines Angesichts arbeiten, er fiel ihm einfach zu. Auch die perfekte Frau spazierte eines Tages an seinem Palast vorbei, er musste nur die Arme öffnen.

Die Angst vorm Teufel führte Gherardino auf eine ungewöhliche Reise

Gut war er noch dazu – den Notleidenden gab er, von Unsittlichem hielt er sich fern. Irgendetwas konnte da nicht stimmen, dachte sich sein Diener Grillo: Der Teufel komme nicht nur als Mann des Friedens oder des Grauens, sondern zuweilen auch als Mann des Glücks.

Der treue Geselle gestand Gherardino seine Befürchtungen, und der nahm seine Sorge ernst. Mit einer Reise nach Jerusalem wollte Gherardino den Teufel austreiben. Wenn er dafür nur nicht sein Zuhause und die Familie verlassen müsste:

Und weil der schöne Gherardino beides wollte, nämlich nach Jerusalem pilgern und zugleich nicht aus Venedig fortgehen, dachte er Folgendes und hatte folgende Idee: Bei einer Pilgerreise kommt es ja nicht auf das Ziel an, sondern auf den Weg. Und er verkündete: »Ich werde jeden Tag in meinem Palast fünf Stunden im Kreis gehen, bis ich so viel gegangen bin, wie der Weg nach Jerusalem lang ist. Und dann gehe ich auf dieselbe Weise wieder zurück.«

Die Pilgerfahrt – immer quer durch alle Räumlichkeiten – dauerte Jahre. Die Menschen, die ihn anders gekannt hatten, wunderten sich; die geliebte Frau verließ den reichlich seltsam gewordenen Mann.

Plötzlich war das Glück ganz weit weg

Und Gherardino wurde ernster und ernster, alt und hässlich. Und auch Grillo ließ nach den Strapazen seinen Herrn im Stich. Am Ende musste er alleine die Rückreise von Jerusalem antreten.

„Auf nach Jerusalem!“ ist eines von 151 Märchen, die Michael Köhlmeier im Laufe der letzten Jahre geschrieben hat. Es ist eines der heiter-melancholischen.

Eine düstere Atmosphäre liegt über vielen Märchen

Daneben gibt es nicht wenige, in denen das Schicksal den Figuren auf sehr viel bösartigere Weise mitspielt, Teufel und Zauberkräfte am Werk sind, Dinge ihren üblen Charakter offenbaren und Tiere sprechen können, wie es in Märchen eben der Fall ist.

Viele siedeln in einem imaginären Mittelalter an oder in ganz konkret-grauer Vorzeit; in manchen finden sich Utensilien unserer Gegenwart, auch wenn das Zauberische stets an eine schauerromantisch verdunkelte Vergangenheit gemahnt.

Märchen sind nicht immer für Kinderohren gedacht

Manchmal geht es so brutal zu, dass man die Geschichten Kindern nicht vorlesen möchte – wie es Michael Köhlmeier ohnehin für ein Missverständnis hält, dass Märchen für Kinderohren bestimmt gewesen sein sollen.

Eine moralische Sentenz, wie sie vor allem Wilhelm Grimm den Märchen gerne hinzugefügt hat, schwäche nämlich die eigentlich unheimliche Macht des Märchens ab. Köhlmeier verzichtet darauf.

Diabolische Metaphorik kommt bei Köhlmeier auch schelmisch daher

Etwa wenn er uns in den Dreißigjährigen Krieg zurückführt und Foltermethoden beschreibt, die sich im wahrsten Sinne des Wortes in des Lesers Gedächtnis einbrennen und keine Erlösung versprechen. Zuweilen aber kommt das Diabolische bei Köhlmeier auch auf schelmischen Sohlen daher:

Es war einmal ein junger Unterteufel, der war ein Versager in der Schule des Bösen.
In den Nebenfächern Schimpfen, Furzen, Rülpsen, Herumschreien war er ja noch einigermaßen einigermaßen, Note befriedigend oder genügend. (…) In den Hauptfächern hingegen, also Betrügen, Quälen, Rauben und Morden, war das Teufelchen ein glatter Versager. (...)
Alle Nachhilfe nützte nichts. Also hat Satan das Teufelchen aus der Hölle geschmissen. Und gelandet ist es in Kärnten, und zwar in Weitensfeld im Gurktal.

Köhlmeiers Großmutter erzählte ihm in Kindestagen bereits Märchen

Wer einen dicken, prächtig gestalteten, von Nikolaus Heidelbach großartig illustrierten Märchenband von 800 Seiten vorlegt, der muss eine innige Beziehung zu dieser Form haben. Michael Köhlmeier liebt Märchen.

Von der Großmutter hat er sie als Kind erzählt bekommen. Wenig später schon erfand er selbst welche und bescherte dem jüngeren Freund Richard damit spannende Stunden. Das war die Lehrzeit des Märchenerzählers.

Märchen sind in Köhlmeiers Schaffen omnipräsent

Im Fernsehen gab er dann über Jahre hinweg klassische Sagen und Märchen zum Besten, in einnehmendem Tonfall saugt er den Zuhörer hinein in die immerwährende Vergangenheit der Geschichten. In seine Romane, sind sie nicht ohnehin märchenhaft, sind manchmal kleine Märchen eingebaut.

Letztes Jahr nun hat er seiner Leidenschaft einen schönen Essay gewidmet, der von der Faszination für diese Form berichtet, auch von ihrer Eigentümlichkeit.

Keine Erklärungen und keine Moral

Denn Märchen sind das ganz Andere. Sie ähneln nicht den Mythen und nicht der Erzählung; sie laden nicht ein zur Identifikation und schon gar nicht zu einer tieferen Interpretation; sie lassen sich noch nicht einmal eindeutig einer Gattung zuordnen.

Sie stehen nicht für etwas, sondern sind. Wo in Romanen psychologisiert wird, damit man Figuren und Handlungen versteht, kommt das Märchen selbst tief aus dem Unbewussten. Für das, was geschieht, ob es böse ist oder gut, gibt es keine Erklärung.

Die Realität liegt im Rätselhaften

Der Konjunktiv waltet über den Märchen, schreibt Köhlmeier, obwohl dieser darin gar nicht vorkommt. Das Rätselhafte ist hier Realität. Zauberei sei nichts anderes als Wirklichkeit werdender Konjunktiv.

Schön gesagt, noch schöner umgesetzt in seinen eigenen Märchen, denen die guten Geister Grimm und Franz Kafka poetischen Atem einhauchen. Letzteren zählt er übrigens zu einem der besten Märchenerzähler überhaupt, man denke nur an den „Hungerkünstler“ oder „Die Verwandlung“.

Dass der Geschichte des Märchens noch ein weiteres Kapitel, und dann auch noch ein so umfangreiches, hinzugefügt werden könnte – das hätte man nicht gedacht.

Köhlmeiers Geschichten sind meist kurz und bündig

Aber Michael Köhlmeier lehrt uns Staunen und Hören. Er lässt in seinen meist sehr kurzen Geschichten verängstigte Kinder ihre Sinne verkaufen und Möbel Anklage gegen einen verdienten Revolutionär mit Namen Lenin führen, er lässt einen trauernden Witwer Geschäfte machen mit Engeln und Teufeln, um seine Liebste wiederzuerwecken, was freilich im größten Unglück endet.

Oder er erklärt uns von Adam und Eva her, wie Böses und Gutes sich in der Welt und in jedem einzelnen Menschen vermischen. Ein Engel schüttet allerdings aus Versehen eine reine Portion Böses über einem Tal aus.

Um seinen Fehler wieder gut zu machen, beschließt er das pure Gute im Tal daneben auszusäen, in der Hoffnung, dass die beiden Gemeinden schon irgendwann zusammenfinden werden. Tun sie aber nicht.

Wie gesagt, die meisten Menschen, die wir kennen, tragen Gutes und Böses in sich. Wenige sind nur böse, und wenige sind nur gut. Diese aber stammen alle aus Salzburg.

Heidelbach illustriert den Band zuweilen gruselig

Wenn man das prächtige, atlasdicke Buch aufschlägt, begrüßt einen ein Bild von Nikolaus Heidelbach, der diesen Band auf grandiose Weise und ziemlich gruselig illustriert hat.

Immer wieder tritt der Teufel in Erscheinung

Es ist eine Zeichnung, die vielleicht am prägnantesten die Doppelbödigkeit dieses Buches abbildet: Da sitzt ein junger Kerl, ein etwas pummeliger Geselle, auf einem Baumstamm. Hut und Wanderstock neben sich, auf einem Tuch ein Brötchen mit Radieschen ausgebreitet – ein Wanderer, der rastet.

In der Rechten hält er einen Spiegel, und man denkt an eine idyllische Szene, vielleicht ein bisschen narzisstisch aufgeladen. Schaut man aber etwas genauer hin, dann erkennt man, was der junge Mann im Spiegel erblickt: Nicht das lebendige, blühende, der Zukunft zugewandte Gesicht eines Burschen, sondern einen Totenschädel.

Diese Zeichen der Vergänglichkeit werden einem neben entstellten Fratzen des Beelzebubs immer wieder begegnen auf den nächsten 800 Seiten – in den Texten und den Illustrationen Heidelbachs.

Mit diesem Band lässt sich die Faszination für Märchen neuentdecken

Das Märchen ist die Erklärung eines Bildes, sagt Michael Köhlmeier. In der Tat: Das Rätselhafte liegt im Bild, aber das Bild selbst hat – meistens zumindest – keine über das Märchen hinausweisende Bedeutung. Es steht für sich.

Alles ist unberechenbar, nicht logisch, nicht nachvollziehbar. Und doch wahr im irrationalen Lauf der Geschichte. Mit Michael Köhlmeiers „Märchen“ kann man die Faszination für diese Form wiedergewinnen.

Und der Schönheit von schwebenden, aus dem Nichts kommenden und ins Nichts verschwindenden Einfälle verfallen.

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Ulrich Rüdenauer