Stéphanie Coste lässt mit Seyoum ein Monster erzählen, wie er wurde, was er ist: Er hat dieselbe Gewalt durchlebt, die er heute anderen zufügt. „Der Schleuser" ist ein aufrüttelnder Roman über die menschenverachtende Flüchtlingsindustrie.
Es gibt viele erschütternde Romane über Menschen auf der Flucht, über Gewalt und Not, die sie erfahren, über ihre Hoffnungen und Ängste. Meist stehen die Flüchtenden selbst dabei im Fokus. Stéphanie Coste dreht in ihrem kurzen Roman „Der Schleuser" die Perspektive um, zumindest auf den ersten Blick: Ihr Protagonist ist einer, der mit den Hoffnungen auf ein besseres Leben sein Geld verdient, ein Schleuser, der Flüchtenden die Überfahrt von Libyen auf die italienische Insel Lampedusa organisiert.
Nur ein Drittel der Flüchtenden kommt auch in Libyen an
Seyoum, der Ich-Erzähler, ist dabei nicht zimperlich. „Ich habe die Hoffnung zu meiner Handelsware gemacht", lautet gleich der erste Satz des Romans. Seyoums Kalkül ist zynisch: Er rechnet damit, dass von den Flüchtenden, die die Sahara durchqueren, nur ein Drittel in Libyen ankommt. Denen, die es bis in seine Lagerhalle schaffen, gibt er, um jeden denkbaren Cent zu sparen, nur das Nötigste bisschen Wasser zum Überleben. Dann schickt er sie mit kaum fahrtüchtigen Booten los, nicht alle Touren kommen in Europa an, viele Menschen ertrinken im Mittelmeer. Gerade bereitet Seyoum die letzte Überfahrt der Saison vor, die ihm nochmal richtig viel Geld einbringen soll.
Er steht unter hohem Druck. Zwar war er einer der ersten und hat sich einen gewissen Namen als Schleuser gemacht, aber die Konkurrenz schläft nicht, und die libysche Küstenwache, die er regelmäßig schmiert, drückt nicht mehr so bereitwillig wie früher ein Auge zu. Seyoum dröhnt sich mit Khat und mit Alkohol zu, er spürt, dass er die Kontrolle verliert.
Das Netzwerk der skrupellosen Schleuser
Stéphanie Costes schmaler Roman ist politisch wichtig, denn sie beschreibt darin eine Welt, die den wenigsten Menschen im Westen bekannt sein dürfte – das raffiniert gewobene Netzwerk aus skrupellosen Schleusern, die Menschen von ihrem Heimatort quer durch die Sahara bis ans Mittelmeer transportieren und sie dann einem ungewissen Schicksal auf See ausliefern. Und das Schleuser-Milieu an sich, in dem offenbar außer dem Recht des Stärkeren und Reicheren keine Gesetze gelten. Ob die Welt der Schleuser in Wirklichkeit so funktioniert, lässt sich schwer nachprüfen. Plausibel erscheinen Stéphanie Costes Schilderungen auf jeden Fall.
Darf man einen Täter aus der Ich-Perspektive erzählen lassen?
Allerdings ist es literarisch heikel, ein Monster in der Ich-Perspektive erzählen zu lassen. Als Autor oder Autorin setzt man sich damit leicht dem Vorwurf aus, das geschilderte Grauen zu relativieren, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren. Eine solche Debatte entspann sich zum Beispiel um Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten"; dort ist der Ich-Erzähler ein ehemaliger SS-Offizier. Stéphanie Coste hält die gebotene Distanz zu ihrem Protagonisten, Seyoum bleibt den ganzen Roman über eine furchtbar unsympathische Figur. Der Autorin geht es darum, zu zeigen, dass Seyoum nicht grundlos zu dem brutalen Schleuser wurde, der er ist. In Rückblenden schreibt sich die Autorin langsam an die Erzählgegenwart heran und liefert Seyoums Geschichte nach. Er stammt aus einer eritreischen Intellektuellen-Familie, wollte Journalist werden wie sein Vater. Doch die Familie wurde politisch verfolgt, Seyoum ist wohl der einzige Überlebende, und er hat auf seiner Flucht genau die Qualen erlitten, die er nun anderen bereitet – er ist abgestumpft und übt in gewisser Weise Rache für sich selbst. Stéphanie Coste rechtfertigt Seyoum nicht, aber sie zeigt ihn als Menschen und macht mit ihrem dialogischen und von kurzen plastischen Szenen geprägten Buch nachvollziehbar, wie aus einem jungen Mann voller Hoffnungen und Ziele ein skrupelloser Schleuser werden konnte.
Doch ausgerechnet bei der letzten Überfahrt der Saison trifft Seyoum auf seine Jugendliebe, und die Autorin schafft es, diesen Schlüsselmoment nicht kitschig, sondern wiederum überzeugend differenziert zu inszenieren.
„Der Schleuser" ist ein aufrüttelnder Roman über menschliche Abgründe und über die Flüchtlingsindustrie rund um das Mittelmeer. Stéphanie Coste informiert uns über eine brutale, von geld- und machtgierigen Männern dominierte Welt, über die wir allzu wenig wissen. Die Autorin ruft mit ihrem Roman auch die Zustände in Eritrea in Erinnerung, das als Polizeistaat gilt und über das bei uns wenig berichtet wird. Ein in vielerlei Hinsicht aufklärerischer Roman.