SWR2 lesenswert Kritik

Selva Almada – Kein Fluss

Stand
Autor/in
Victoria Eglau

Ein Fluss, der mehr ist als ein Fluss: Er ist Sehnsuchts- und Erinnerungsort. Ziel fröhlicher Angel-Ausflüge, von denen bei Selva Almada einer einst tödlich endete. Die Argentinierin erzählt in ihrem neuen Roman Kein Fluss von Männerfreundschaft und -feindschaft, von Machismo, den Qualen einer Mutter und dem komplexen Verhältnis zwischen Lebenden und Toten.

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Drei Männer. Ein Boot. Und ein riesiger Fisch, den sie mit vereinten Kräften aus dem Fluss ziehen. Selva Almada erzählt zu Beginn ihres Romans Kein Fluss von einem Angelausflug in einer ländlichen Gegend im Nordosten Argentiniens.

Enero und El Negro sind zwei Mittfünfziger, einfache Leute. Der dritte im Bund ist der Sohn ihres verstorbenen Freundes Eusebio – ein Teenager namens Tilo. Die beiden Älteren haben den Jüngeren unter ihre Fittiche genommen. Mit dem Boot sind sie über den breiten Fluss zu einer Insel gefahren, haben am Ufer ihre Zelte aufgeschlagen und den gefangenen Rochen – ein Ungetüm von fast hundert Kilo – stolz an einen Baum gehängt.

Sie betrinken sich, hören Musik aus dem Radio, tanzen. Ein Idyll der Männerfreundschaft, so scheint es. Gestört wird es allerdings, als am nächsten Tag ein Einheimischer erscheint und die Besucher in ein unbequemes Gespräch verwickelt.

Dem Inselbewohner passt es gar nicht, dass Enero, der Anführer des Angler-Trios, dem Rochen drei Schüsse verpasst hat und das tote Tier – als es zu stinken beginnt – einfach wieder in den Fluss geworfen hat. Der verärgerte Insulaner zieht zwar von dannen, aber von nun an liegt eine Bedrohung in der Luft.

Dass die Ausflügler auf der Insel nicht willkommen sind, ist ihnen zwar selbst nicht so klar – aber die Lesenden spüren es ganz deutlich. Sogar die Natur scheint die Besucher als unliebsame Eindringlinge zu betrachten. Selva Almada beschreibt den Wald auf der Insel mit seiner üppigen Tier- und Pflanzenwelt als Ort, der die Einheimischen wie eine zweite Haut umfängt, der aber abweisend zu den Fremden ist.

Die drei Angler-Freunde erkennen die Feindseligkeit der Inselwelt wohl deshalb nicht, weil ihr ganzes Denken und Fühlen auf den Fluss gerichtet ist. Das undurchsichtige Gewässer also, das dem Buch seinen Namen gegeben hat.

Kein Fluss heißt der Roman vielleicht, weil dieses Gewässer viel mehr ist als ein Fluss. Nämlich ein Sehnsuchts- und Erinnerungsort. Eusebio, der Vater von Tilo und enge Freund von Enero und El Negro, ist vor vielen Jahren beim Angeln ertrunken. Der zunächst unbeschwert wirkende Ausflug ist also auch eine Rückkehr dorthin, wo Eusebio gestorben ist.

Der Tote ist eine Schlüsselfigur des Romans und die Lebenden erinnern sich an ihn – jeder für sich. Durch Rückblenden, die die Autorin geschickt in die Handlung einbaut, erfahren wir immer mehr über die Vergangenheit der Protagonisten und ihre Beziehung zueinander.

Ihr argentinisches Provinz-Universum ist geprägt von Machismo, zerrütteten Familien, unverbindlichen Sex-Beziehungen. Manch ein schwangeres Mädchen wird zur illegalen Abtreibung gedrängt – bei einem Heiler, der Hilfe in allen Lebenslagen verspricht. Jenseits des dunklen, breiten Flusses, auf der Insel, sieht das Leben nicht viel anders aus. Männer betrinken sich miteinander, frühreife Töchter werden vom Vater verprügelt, Frauen ziehen ihre Kinder alleine groß.

So wie die Romanfigur Siomara. Sie hatte zwei Töchter, die bei einem Autounfall nach einem Tanzfest gestorben sind. Den Verlust hat die Mutter nicht verwunden, Siomara gilt auf der Insel als sonderbar, immer wieder zündet sie Feuer an. Sie und das Freundes-Trio vom Festland haben gemeinsam, dass die Toten in ihrem Leben präsent sind.

Für Enero, El Negro und Tilo ist die Erinnerung an den ertrunkenen Eusebio höchst lebendig. Bei den verunglückten Mädchen bekommt das Wort „lebendig“ noch einmal eine andere Bedeutung – denn die Autorin lässt Siomaras tote Töchter wie Lebende agieren.

Damit führt sie ein übernatürliches Element in die Handlung ein, das nicht seltsam oder schaurig, sondern vielmehr anrührend und poetisch wirkt. Auch Selva Almadas knappe, kondensierte, aber bildreiche Sprache erinnert an Poesie.

Die Gewalt, die sich schließlich entlädt, ist von Anfang an subtil zwischen den Zeilen zu spüren, was den Roman so packend macht. Am Ende löst die Autorin die Gewalt auf – in einer rettenden Begegnung der Lebenden mit den Toten. Nur für Siomara gibt es möglicherweise keine Rettung mehr.

Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Berenberg Verlag, 112 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-949203-49-7

Stand
Autor/in
Victoria Eglau