Kaum einer unter den deutschen Geschichtsgroßdenkern im 20. Jahrhundert hat sich dem Studium des Erinnerns und Gedenkens selbst so intensiv gewidmet wie Reinhart Koselleck. Die meisten der nun zu seinem hundertsten Geburtstag am 23. April vorgelegten dreißig Texte sind bereits erschienen, als Reden oder Zeitungsbeiträge, nur fünf von ihnen erscheinen erstmalig. Ihre Themen: politischer Totenkult und persönliche Erinnerung.
Koselleck erzählt, wie er noch im Zweiten Weltkrieg als Soldat vom Massaker von Babyn Jar erfuhr oder wie er nach Kriegsende in sowjetischer Gefangenschaft die Industrieanlagen im Lager Auschwitz demontieren musste und dabei mit ehemaligen KZ-Häftlingen in Berührung kam. Eine Tante von ihm wiederum wurde in der so genannten Euthanasie-Aktion vergast. Seine These: multidimensional, heute würde man sagen: fluide wie jede menschliche Identität, ist das menschliche Erinnern, und deshalb müssten alle politischen Versuche, dieses Erinnern zu normieren und zu kanalisieren, scheitern. Für Koselleck gibt es keine „kollektive Erinnerung“.
Politisch aktuell wurde dieser Standpunkt in der Kontroverse um die Errichtung des Berliner Holocaust-Mahnmals in den Neunzigerjahren. Mit seiner Forderung, es müssten entweder Denkmale für alle Opfergruppen oder für keine errichtet werden, stand Koselleck damals relativ allein; heute, in Zeiten der Diversität und der Multikulturalität, läge er damit vermutlich im Trend.
Kosellecks Skepsis gegenüber dem Holocaustgedenken als, wie er sagt, „ziviler Religion“ gründete in einem fundamentalen Zweifel daran, ob die verschiedenen Erfahrungs- und Erinnerungshaltungen der Menschen – selbst, wenn sie die gleichen Dinge erlebt hatten – sich auf einen gemeinsamen dogmatischen Nenner bringen lassen.
Und was, wenn sich die falschen Leute mit dem Opfersein der anderen identifizieren? Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sei der Opferbegriff vom Aktivischen ins Passivische umgedeutet worden. Opfer, das hieß bis 1945 vor allem: man habe sich geopfert für eine höhere Sache, fürs Vaterland. Angesichts der deutschen Massenverbrechen unter Hitler habe dann eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden: die größte Ehre gebührt nun nicht mehr aktiv kämpfenden Helden, sondern denen, die passiv Opfer von Erniedrigung und Gewalt wurden. In vielen Teilen der Welt ist diese Bedeutungsverschiebung noch im Gange.
Die Kehrseite dieses Gedenkens war für Koselleck, dass die Täterschaft der Deutschen vor dem Gedenken an die Opfer in den Hintergrund treten, sich gewissermaßen hinter ihm verstecken konnte. Daher sein Plädoyer für ein Täter-Mahnmal statt eines Opfer-Denkmals in Deutschland.
Politisches Erinnern überhaupt ist, so lesen wir, ein Phänomen der Moderne. In dem Maße, in dem der Mensch der Frühen Neuzeit sich der irdischen Gebundenheit seiner Existenz und damit seiner eigenen radikalen Endlichkeit bewusst wird: in demselben Maße entwickelt er überhaupt erst das Bedürfnis nach Monumentalisierung; dieses Bedürfnis fräst sich dann sozialgeschichtlich von oben nach unten durch die Klassen. Erst wird nur an Herrscher erinnert, dann auch an adlige und bürgerliche Einzelpersonen, schließlich an einfache Soldaten, die am Ende sogar Reiterstandbilder bekommen. So gehen Memorialisierung und Demokratisierung Hand in Hand.
Koselleck spricht in erdgeschichtlichen Metaphern. Erinnerungen seien zerklüftet, aber auch „geronnene Lavamasse, die sich einmal glühend und fließend in den Leib eingegossen hat, um unverschiebbar Schichten festzulegen, auf denen das ganze weitere Leben aufbaut oder sich darum herumstiehlt.“
Keine der acht Milliarden Gesteinsformationen, die die Erinnerungen aller Erdenbewohner darstellen, gleicht ganz der anderen, jede ist einzigartig wie ein Fingerabdruck; hier liegen die Herausforderung und auch die leise Vergeblichkeit von Geschichtspolitik: sie kann nur zu einem Erinnern und zu einer Verantwortung auffordern, die in den vulkanischen Abgründen des Einzelnen Resonanz finden. Vielleicht aber gibt uns das auch Hoffnung: darauf, dass der einzelne Mensch mehr ist als diese irdische Existenz mit ihrer historisch zugefallenen Täterschaft und Opferschaft.
Herausgegeben von Manfred Hettling, Hubert Locher und Adriana Markantonatos
Suhrkamp Verlag, 572 Seiten, 38 Euro
ISBN 978-3-518-58796-6