Ein junger Bauer sucht um Anschluss an die Gegenwart und scheitert doch an den Gegebenheiten der Landwirtschaft und der eigenen psychischen Verfassung. „Wilderer“ beeindruckt durch eine Ästhetik des Kargen und eine Komik der Hoffnungslosigkeit.
Jakob Fischer ist ein Landwirt mit Anfang zwanzig, der sich schon als Jugendlicher um den Hof seiner Eltern kümmern musste. Der Vater wird vom Sohn jedenfalls als Hallodri beschrieben, der spinnerten Ideen nachhängt und nicht in der Lage ist, den Betrieb zu führen. Aufreibend ist die bäuerliche Arbeit, die Jakob aber mit großer Disziplin gelingt. Manchmal hadert er mit den Umständen, fragt sich, was aus ihm geworden wäre, wenn er in ein anderes Leben hineingeboren wäre.
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Dennoch nimmt er sein Schicksal an. Weil er unter der Unzuverlässigkeit der Eltern immer gelitten hat, sind für ihn feste Grundsätze und eine geregelte Alltagsstruktur sehr wichtig. Zumal er sich und seinen impulsiven Charakter allzu gut kennt und sich fürchtet, den immer mal aufkommenden Jähzorn nicht kontrollieren zu können.
Seine Schwester Luisa hält Jakob für einen Versager. Aber sie hat, wie der Bruder weiß, auch keine Ahnung von der bäuerlichen Mühsal. Schon die Einstiegsszene lässt das Unheil aufscheinen, das die hart erarbeitete Ordnung zerstören könnte. Kaltschön sind die Sätze, mit denen Reinhard Kaiser-Mühlecker die Landschaft beschreibt, in der die Hauptfigur seines neuen Romans „Wilderer“ zu überleben versucht.
Sobald Jakob in das eiskalte, klare, bernsteinfarbene und an dieser Stelle kaum knöchelhohe Wasser hinuntergestiegen war, entdeckte er einen Steinwurf entfernt die Hündin, die mit gespreizten Vorderläufen vor einer tiefen Stelle stand und ins Wasser zu starren schien, das da ein Grau annahm, das jenem des Schliers ähnelte, der in den hiesigen Feuchtgebieten unter dem Mutterboden lag.
Kaiser-Mühlecker kennt sich im Setting seiner Geschichten gut aus, führt er doch selbst den Bauernhof seiner Vorfahren. Heimatromane aber schreibt er nicht. Vielmehr dringt er auch im neuen Werk tief ein in jene psychischen Schichten seines Protagonisten, die dem erwähnten schiefrigen Schliergestein ähneln.
Dunkel und leicht zerbrechlich wirkt Jakobs Seelengefüge. Als die Hündin Landa wieder einmal ausbüxt und mit Blut an den Vorderpfoten auf den Hof zurückkehrt, das „nicht ihres war“, als das Tier schon bald das Fressen verschmäht und sich vor Schmerzen krümmt, heißt es in der Familie: „Sie war wieder wildern.“ Vielleicht wird Landa an Knochensplittern im Gedärm oder an einem Rattenköder zugrunde gehen. Den Tod des Tiers aber wird Jakob auch als seine Niederlage begreifen, da er es nicht geschafft hat, das Raubtier zu domestizieren.
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Das Wilderer-Motiv wird im Text nun auf erstaunlich vielfältige Weise durchgespielt; in diesem Buch wildern jedenfalls nicht nur die Hunde. Abends verbringt Jakob viel Zeit auf einer Dating-Plattform, und auch dort lauern Räuberinnen auf ihre Beute. Einmal wird Jakob von einer Bertrügerin kontaktiert. Erst schwärmte sie von Viehzucht und Ackerbau, doch dann hatte sie es nur auf sein Geld abgesehen. Seitdem ist er Frauen gegenüber noch skeptischer.
Eher zufällig lernt Jakob die Künstlerin Katja kennen, die im Dorf ein Stipendium angetreten hat und sich immer wieder bei ihm meldet. „Du bist also Landwirt?“, schreibt sie ihm aufs Handy. „Das stelle ich mir aufregend vor!“
„Aufregend? Die hatten doch alle keine Ahnung. Zugleich fühlte er sich geschmeichelt. Immerhin wusste er, dass in der Gesellschaft Bauern nicht viel galten, und niemand wollte zu tun haben mit ihnen, daran hatte auch das ganze Gerede im Radio in letzter Zeit über die Versorgungssicherheit und die Wichtigkeit des Bodens und diese Dinge nicht viel ändern können.“
Tatsächlich verhält sich Katja anders, als Jakob vermutet hat. Sie, die Städterin, redet nicht herablassend über seine Arbeit, hilft ihm bei der Versorgung der Hühner, macht Vorschläge, den Betrieb ökologisch umzugestalten. Sie ist hartnäckig, er nennt sie eine „Anpackerin“. Die beiden verlieben sich, heiraten und bekommen ein Baby.
Jakob genießt zwar das Glück, ahnt aber die Gefahr, die mit den Veränderungen einhergeht. Hat er sich nicht immer wieder einen vernichtenden Krieg herbeiwünscht, weil das Leben mit all den Lieblosigkeiten nicht auszuhalten war? Was ist mit seiner Wut geschehen? Oder hat Katja ihn zu einem anderen Menschen gemacht?
Sie war Jakob wie immer ein paar Schritte voraus. Und er dachte, was er nicht oft, aber von Zeit zu Zeit dachte: Ich darf diese Frau niemals verlieren.
Einmal, in einem eher unbedeutenden Streit, sagt Katja, er „wisse gar nicht, was Liebe sei“. Die literarische Kunst Kaiser-Mühleckers besteht nun darin, aus kleinsten Rissen, die sich in jeder Beziehung auftun, einen fatalen Weg in die familiäre Katastrophe aufzuzeigen, ohne die Gründe für das Scheitern eindeutig zu benennen.
Von außen betrachtet könnte es nicht besser laufen: Jakob erbt das Vermögen der Großmutter, über das lange orakelt wird, ob es überhaupt existiert und aus welchen dubiosen Quellen es stammen könnte. Mit dem Geld werden jedenfalls Katjas Pläne umgesetzt, und der erfolgreiche Biohof wird bald als „Betrieb des Jahres“ ausgezeichnet. Der Bürgermeister hält auf dem Hof eine Festrede auf den Vorzeigebauern, dem selbst die neidvollen Tiraden der Schwester nichts mehr anhaben können. So jedenfalls nimmt Jakob die Geschehnisse wahr, und da der Erzähler ausschließlich bei seiner Hauptfigur bleibt, führt Katjas Entscheidung, kurze Zeit später den Hof nahezu fluchtartig zu verlassen, auch zu der Frage, wem hier überhaupt zu trauen ist. „Sie hat Angst vor dir“, erklärt Luisa, womit Jakob erneut in einem Strudel von Selbstzweifeln unterzugehen droht.
„Das konnte doch nicht sein. Er wollte das alles nicht. Er wollte den Wirbel nicht, das Chaos, das Regellose, Unabsehbare (…) wollte nicht, dass dann auch noch die Mutter kam und auch sie sich neben die sich von allen abwendenden, vor allen zurückweichende Katja stellte, als müsse man sie vor Jakob beschützen. Als seien Luisas Worte wahr. (…) Als stimme es, dass man Angst vor ihm haben müsse.“
Was stimmt hier? Sind Katjas Befürchtungen berechtigt? Oder werden hier wieder nur Vorurteile reproduziert, unter denen Jakob zeitlebens gelitten hat? Diese Fragen stellt der durchkomponierte Text auch ans lesende Publikum, das sich niemals sicher sein sollte, die richtige Antwort parat zu haben. Auslassungen prägen die Prosa, die mehr in Frage stellt, als dass sie Urteile fällt. So unheimlich Jakob in vielen Szenen erscheinen mag, ist seine Härte etwa gegenüber wildernden Hunden nicht auch verständlich? Sind die Maßstäbe, die auf dem Land gelten, andere als die des kultivierten Städters? Oder ist Jakob doch ein Psychopath, der schreckliche Erlebnisse in Kindertagen nicht verarbeitet hat und besser allein bleiben sollte. Um seinen Sohn hat er sich vorbildlich gekümmert. Die Liebe gegenüber Katja scheint trotz eines Fehltritts aufrichtig. Gerade in der renitenten Uneindeutigkeit entwickelt das Buch eine beeindruckende Tiefe.
Kaiser-Mühlecker knüpft mit „Wilderer“ an seinen vielgelobten Roman „Fremde Seele, dunkler Wald“ an, doch im Grunde fügen sich alle Werke dieses Schriftstellers zu einer großen, existenzialistischen Erzählung zusammen, die vom unerbittlichen Wandel des Landlebens handelt. Seine karge Sprache schafft etwas sehr Seltenes in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur; gerade in den Passagen größter Erschütterung entstehen kurze Momente der Erhabenheit.
Wer sich einmal auf die schroffen Charaktere eingelassen hat, wie sie sie in ihrer Verzweiflung um Menschlichkeit ringen, wird nicht mehr aufhören können, Kaiser-Mühlecker zu lesen. Der literarische Ton dieses Autors erinnert manchmal, wie selbst Peter Handke angemerkt hat, an die Seelen- und Naturbeobachtungen Adalbert Stifters, aber der Vergleich hilft nur mäßig. Die singuläre Qualität dieser Prosa besteht nämlich nicht nur in der Beschreibungskunst einer bäuerlichen Kulturlandschaft, in der Entwicklung von Figuren, die sich wie verwundete Raubtiere verhalten, sondern auch in einer feinen Komik der Hoffnungslosigkeit. So wird Jakob in der neuen, alten Einsamkeit keineswegs aufgeben. Er macht sich an die Arbeit, was soll er auch sonst tun. Von der Ferne hallt die Autobahn durchs Tal. Eine Idylle hört sich wahrlich anders an. Aber die Angebote, die von den Stadtmenschen über den Äther geschickt werden, sind auch nicht gerade verlockend.
„Und dann setzte Jakob die Kopfhörer auf und schaltete das Radio ein; drehte den kleinen Knopf ein wenig weiter; so war es gut; laut genug; es lief ein Violinkonzert; bestimmt war´s eines von Hayden oder Beethoven oder Mozart oder Schubert, sie spielten ja doch nie was anderes.“