Buchkritik

Rainald Goetz – Wrong

Stand
Autor/in
Jörg Magenau

Er nennt sich gerne einen „Punk des Denkens“. Seine Jugendlichkeit hat er nie verloren. Und doch wird Rainald Goetz jetzt 70 Jahre alt. Der Band „Wrong“ mit Vorträgen, Gesprächen und Notaten aus den letzten zwanzig Jahren bietet nun Gelegenheit, diesen originellen, irrlichternden Denker genauer kennenzulernen und mit ihm anders auf die Welt zu schauen.

Rainald Goetz trägt für seinen Vortrag einen pinkfarbenen Trainingsanzug. Aus einer gar nicht so großen Tasche packt er erstaunlich viele Bücher aus und deponiert sie vor sich auf dem Tisch. Das dauert ein bis zwei Minuten. Dann fördert er Papierstapel zu Tage. Rasch macht er sich noch ein paar letzte Notizen. Dann lässt sich der Vortrag nicht länger aufschieben: Rainald Goetz spricht.

So geschehen vergangenen Herbst nach der Uraufführung seines Dramas „Baracke“ am Deutschen Theater in Berlin. So zu sehen auf Youtube.

Pretty in Pink am Deutschen Theater

Abgedruckt ist dieser Vortrag jetzt in einem Band mit Essays, Gesprächen, Kritiken, Notaten, Tagebüchern aus den letzten zwanzig Jahren. Er erscheint pünktlich zu Rainald Goetz‘ 70. Geburtstag unter dem Titel „Wrong“.

Daraus ergibt sich das Bild eines originellen Denkers, seines irrlichternden Suchens, seines präzisen Empfindens und seiner ganz eigenen Art, Dinge und Menschen wahrzunehmen. Als „huschendes Schreiben“ und „flatterndes Denken“ hat Goetz selbst das bezeichnet.

Dabei sehnt er sich, wie er 2022 in einem Interview verriet, nach Güte, Zärtlichkeit und Mitleidsfähigkeit. Dass Literatur dennoch „vor Negativität bersten“ soll, wie er 2019 in seinem Arbeitsjournal notierte, muss dazu nicht unbedingt ein Gegensatz sein.  

Ich träume den irrationalen, extrem simplen Traum von GÜTE, dass die Leute nett miteinander umgehen, rücksichtsvoll, zartfühlend, vernünftig, höflich. Das wäre eine Revolution, das schon, aber die könnte nur jeder für sich selbst machen, wenn er sie machen wollen würde. 

Der Körper im öffentlichen Raum

Berühmt wurde Rainald Goetz 1983, als er sich bei seiner Bachmann-Preis-Lesung mit einer Rasierklinge in die Stirn schnitt und sein Blut aufs Papier tropfen ließ. Inzwischen lehnt er ab, was zu Performance und Verkleidung tendiert, auch wenn der Auftritt im pinkfarbenen Trainingsanzug dagegen sprechen mag.

Über sein Erscheinungsbild nachzudenken ist schon deshalb unausweichlich, weil er in seinen Texten immer wieder über die Wirkung von Körpern im öffentlichen Raum nachdenkt. So beobachtete er jahrelang, weil er einen Roman über den Politikbetrieb schreiben wollte, Politikerauftritte im Bundestag.

Ein Porträt seines verehrten Verlegers Siegfried Unseld beginnt er damit, wie der raumgreifende Mann sich rasch in den Schritt fasst, während er auf ihn zukommt. Und einen Vortrag im Berliner Wissenschaftskolleg leitete Goetz im Februar 2023 mit der Überlegung ein, was wohl in all den Köpfen vor ihm im Publikum vor sich geht:  

Was sind das für Leute? Wie reden sie, wie bewegen sie sich, wie schauen sie aus und was haben sie an? Wie also drückt ihr körperliches Sein, ihre Kleidung und ihr Habitus das aus, was sie gedanklich sind. Wie steht das im Verhältnis zueinander, wie passt es zusammen? 

Jung mit 70

Rainald Goetz ist auch mit 70 noch jung, weil er sich eine unstillbare Neugier auf alles Gegenwärtige bewahrt hat. Coolness lehnt er erklärtermaßen ab. Sie passt schon deshalb nicht zu ihm, weil er sich vor allem durch eine überbordende Begeisterungsfähigkeit auszeichnet; das verbindet alle die disparaten Texte in „Wrong“.

Goetz ist ein manischer Leser und auch ein vorzüglicher Kritiker, der aggressive Gedankenschärfe mit Empathie verbindet. So schrieb er unter anderem über Michel Houellebecq, über Joachim Bessing und die Popliteratur und immer wieder über Wolfgang Herrndorf und dessen Suizid, betätigte sich aber auch als Kunstkritiker, als er 2007 anlässlich der Berliner Impressionisten-Ausstellung über das Licht nachdachte.

All sein Schreiben ist eine fortgesetzte, unendliche Verstehensbemühung. In „Wrong“ kann man Rainald Goetz dabei zuschauen. Seine quecksilbrigen „Textaktionen“ sind Protokolle dieser das Leben ausmachenden Gedankenbewegung. Das macht sie so lebendig wie unberechenbar.  

Buchkritik Moritz Baßler – Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens

Gibt es einen internationalen Einheitsstil des Erzählens? Was ist gute Literatur, was konventionelle Unterhaltungsware? Wo rangieren Daniel Kehlmann, Elena Ferrante, Rainald Goetz, Mithu Sanyal? Moritz Baßler versucht Antworten auf diese Fragen in seinem Buch "Populärer Realismus".
rezension von Eberhard Falcke.
C.H.Beck Verlag, 407 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-406-78336-4

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