Buch der Woche

Rachilde - Monsieur Vénus

Stand
Autor/in
Andreas Puff-Trojan

Skandal in Frankreich! 1884 erschien ein queerer Roman, der die Gemüter erhitzte. Der erst 24-jährigen Autorin drohten zwei Jahre Gefängnis und 2000 Francs Geldbuße. Wegen Verstoßes gegen die guten Sitten.

Doch die junge Französin hatte sich einen Künstlernamen zugelegt – Rachilde – und erzählte unter diesem Namen vom Gendertausch innerhalb einer Ehe. „Monsieur Vénus“ heißt der Roman ganz frivol. Jetzt liegt er erstmals auf Deutsch vor. Eine Entdeckung.

Die Skandalträchtigkeit des Romans machte ein Pseudonym nötig

„Rachilde“ ist das Pseudonym, unter dem die französische Schriftstellerin Marguerite Eymery ihre Texte verfasste. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war es nicht unbedingt notwendig, dass Autorinnen unter einem Decknamen publizierten.

Doch bei Rachilde kam ein gewichtiger Faktor dazu: Ihr erster Roman „Monsieur Vénus“, den sie mit 24 Jahren veröffentlichte, war ein Skandalwerk erster Güteklasse.

„Monsieur Vénus“ hat bis heute Anhänger und Gegner. Im Text geht es um die Verschiebung der geschlechtlichen Positionen in einem Liebesverhältnis. Das mag heutzutage wenig verstören, doch die Art und Weise wie es Rachilde tut, ist weiterhin irritierend.

Rachilde spielte in ihrer Erscheinung mit den Geschlechterrollen

„Homme de lettres“ – das schrieb Rachilde selbstbewusst auf ihre Visitkarte. Wörtlich heißt das „Mann der Schrift“, also Schriftsteller – nicht „femme de letters“, Schriftstellerin.

In den 1890er Jahren unterhielt sie in Paris einen literarischen Salon, in dem berühmte Autoren des Symbolismus sich die Klinke in die Hand gaben: Paul Verlaine, Guillaume Apollinaire, Joris-Karl Huysmans, Stéphane Mallarmé, Oscar Wilde und viele andere.

Zu Autorinnen ging sie eher auf Distanz. Rachilde präsentierte sich auf Fotos oft in Männerkleidern, trug eine Kurzhaarfriseur und blickte dabei herrisch drein. In ihrem Auftreten ähnelt Rachilde damit ihrer Romanheldin aus „Monsieur Vénus“: Raoule de Vénérande.

Die selbstbewusste Protagonistin Raoule ähnelt in manchem der Autorin

Wie die Autorin ist Raoule de Vénérande Mitte Zwanzig. Anders aber als Rachilde ist Raoule reich und adeliger Herkunft, damit ein Teil der Pariser Hautevolee. Ihre Eltern leben nicht mehr, eine alte, religiös gesinnte Tante versucht sich als Vormund.

Auf den ersten Blick hatte ihr harter Gesichtsausdruck nichts Einehmendes. Die wunderbar geschwungenen Augenbrauen besaßen die ausgeprägte Neigung, sich in einer gebieterischen Falte beharrlicher Willenskraft zusammenzuziehen. Ihre tiefschwarzen Augen, die unter langen, gebogenen Wimpern metallisch glänzten, glichen Glutkohlen, wenn die Leidenschaft sie entzündete.

Die äußerst selbstbewusste Raoule entgleitet ihr und beginnt, einen jungen, mittellosen Maler zu fördern. Er heißt Jacques Silvert. Raoule interessiert sich nur mäßig für dessen Talent. Was sie magisch anzieht, ist etwas anderes: Jacques‘ androgyne Erscheinung, die ihn zu einer exzentrischen Schönheit macht.

Die Geschlechterrollen in der Beziehung zwischen Raoule und Jacques sind fließend

Der Maler gleicht zuzeiten einer Frau. Seine Transsexualität ist durchaus schillernd: Jacques nimmt zwar im Liebesakt die männliche Rolle ein, zugleich verhält er sich unterwürfig, ja, dienend gegenüber Raoule. Das heißt, er als Mann besetzt weitgehend denjenigen Platz, den man in der streng patriarchalischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts der Frau zuordnete.

Der Mann besitzt, die Frau erduldet. Des Mannes Befähigung zur Leidenschaft geht nicht über die Grenzen seiner physischen Potenz hinaus. Sobald der Zeugungsakt vollbracht ist, ist er gesättigt. Der Mann ist Materie; die Frau ist Wollust, ist die ewig Dürstende.

Die Autorin will mit diesen Worten zeigen, worunter Sexus und Erotik von Mann und Frau leiden. Sie ordnet allerdings Eros dem Weiblichen zu und das Materielle dem Mann. Damit entspricht Rachilde durchaus den gängigen Sexualvorstellungen des 19. Jahrhunderts.

Bereits in den Namen der Protagonisten spielt Rachilde mit Bedeutungsebenen

Der Vorname ihrer Romanheldin ist „Raoule“ mit „e“ am Schluss, also die sehr unübliche weibliche Form des Männernamens. Raoules Nachname de Vénérande spielt auf mehrere Bedeutungen an: Das Verb „vénérer“ meint im Französischen „verehren“.

Und das Adjektiv „vénérien“ meint „venerisch“, also den Liebesakt und die damit übertragbaren Geschlechtskrankheiten betreffend. Beide Bedeutungsebenen beziehen sich auf die Göttin der Liebe, „Venus“. Raoule de Vénérande spiegelt im Roman „Monsieur Vénus“ all diese Implikationen wider.

Für Raoule de Vénérande begann in jenem schicksalhaften Augenblick, in dem Jacques Silvert die Macht des liebenden Mannes an sie abgetreten hatte und zu ihrem Objekt wurde, zu einer Art leblosen Wesen, das sich lieben ließ, weil es selbst auf ohnmächtige Weise liebte, ein seltsames Leben. Denn Jacques liebte Raoule aus wahrem Frauenherzen.

Durch die Heirat mit Jacques gerät Raoule ins Abseits

Raoule de Vénérande macht aber einen gewaltigen Schritt weiter. Es geht ihr nicht bloß um eine Umkehrung der Rolle von Frau und Mann. Sie möchte diese, für die Gesellschaft abartige Liaison, gesellschaftlich legitimieren: Sie heiratet Jacques Silvert und entledigt sich zudem ihres altehrwürdigen Familiennamens und nennt sich nun Raoule Silvert.

Damit ist ihr gesellschaftlicher Niedergang vorprogrammiert. Die Pariser Oberschicht meidet sie geflissentlich. Bei einem der letzten Feste, das Raoule gegeben hat, hätten es alle sehen können, wie Raoule und Jacques im Tanz miteinander verschmelzen. Doch dieses Ineinander-Aufgehen ist und bleibt eine Ungeheuerlichkeit, eine Überschreitung der Norm.

Wenn man ihnen zusah, wie sie sich aneinander geschmiegt drehten und in einer Umarmung verschmolzen, bei der sich trotz ihrer Kleidung Fleisch an Fleisch presste, stellte man sich die eine Gottheit der Liebe in zwei Personen vor, das vollständige Wesen, von dem die Legenden der Brahmanen erzählen, zwei Geschlechter in einer Gestalt.

Rachilde geht es um die Infragestellung geschlechtlicher Rollenverteilung

Vom Hinduismus über die Doppelgeschlechtlichkeit bei Platon bis zum deus ambiguus, dem zwei-deutigen Gott, in der Renaissance gibt es die Vorstellung vom Zusammengehen der Geschlechter von Mann und Frau.

Doch in Rachildes „Monsieur Vénus“ ist weniger von einer „Gottheit der Liebe in zwei Personen“ zu lesen als von einer Befreiung aus gesellschaftlichen Konventionen durch sexuelle Ekstase. Das letzte Kapitel öffnet dann den Blick auf eine erotische Zügellosigkeit, die über den Tod hinausreicht.

Ist Rachildes Roman „Monsieur Vénus“, der 1884 erstmals erschien, heute noch lesenswert? Eines sollte klar sein:  Rachilde war keine Frauenrechtlerin. Ihr ging es um die Infragestellung von geschlechtlicher Rollenverteilung.

„Monsieur Vénus“ ist ein Juwel der literarischen Erotik

Man könnte also Rachildes Roman als frühes Beispiel für die Transgender-Debatte anführen. Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass „Monsieur Vénus“ der Versuch ist, eine ins Korsett geschnürte Sexualmoral aufzubrechen – und dass mit dem Sprengstoff erotisch aufgeladener Literatur.

Das allein macht den Roman äußerst lesenswert. Und noch etwas gilt: Literarisch hochstehende Erotik war und ist in der deutschen Belletristik Mangelware. Da erfreut es, wenn man ein kleines französisches Juwel in Händen hält.

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Autor/in
Andreas Puff-Trojan