Wolfgang Heidenreich
DIE GEGENSTIMME DER POESIE
Der Peter-Huchel-Preis ist zu einer Institution geworden, weil er auffordert, mit eigenen Leseerfahrungen an dem Gespräch über Gedichte teilzunehmen. Tatsächlich ging der erste Impuls zur Stiftung und Ausgestaltung dieses dem gesamten deutschsprachigen Raum gewidmeten Lyrik-Preises 1983 von begeisterten Lyrik-Lesern aus, die ein Gespräch über Gedichte führten und sich von Peter Huchels Zeile inspirieren ließen, solche „Gespräche wie Bäume“ zu pflanzen. Der Funke transformierte sich nun in kühlere Gründerenergien, brachte den Bauplan, die kulturpolitische Konzeption des Preises voran und die Stiftungs-Kooperation zwischen dem Südwestfunk und dem Land Baden-Württemberg zustande.
Mit den konkreten Plänen reifte von Anfang an auch der Wunsch, den Auftrag und den Anspruch dieses Preises mit dem Gedenken an den 1981 in Staufen i.B. verstorbenen Peter Huchel zu verbinden. Die Anteilnahme an seinem Lebensschicksal, die Bewunderung seines Werks hatten sich durch professionelle und persönliche Verbindungen konkretisiert. In Staufen, der „Notherberge für seine letzten Jahre“, hatte er nach 1972 für den Südwestfunk seinen gedächtnisbitteren, autobiographischen Essay über den Jüdischen Friedhof im benachbarten Sulzburg geschrieben, sich dem Exerzitium eines umfangreichen Lebensberichts aber verweigert. Die rastlose Fron seiner Lesereisen hatte er sarkastisch mißachtet, aber der alte Berliner Rundfunkmann hatte bei den Radioaufnahmen seiner Gedichte im Freiburger SWF-Studio die vertraute Studioatmosphäre und das Gespräch mit den jüngeren Rundfunkmitarbeitern geschätzt. Während er mit märkisch näselndem Singsang seine sich immer karger ins Schweigen hinüberdrehenden Verse aufs Band sprach, war es ihm sogar selbstironisch gelungen, seinen heftigen Zigarettenverzehr auf die schnüffelnde Präsenz der Rauchmelder über den Mikrofonen einzustellen.
Las Peter Huchel, entfiel die Frage, ob und wo er und seine Dichtkunst aus- oder eingebürgert seien. Seine Wortklänge, seine Bilder, der „große Hof seines Gedächtnisses“ schufen (fernab der Reichweite jedweder Paßbehörden) den Raum einer eigenen Souveränität mit einem eigenem Wohn- und Transitrecht seiner Sprache. In privaten Gesprächen machte er aus seinen Verletzungen und Verzweiflungen („..den alten Jammer/ bis zur Vernichtung der Sinne zu sehen“) keinen Hehl, sah sich und die Poesie an den Rand gedrängt, sagte: „Der Lyriker lebte immer am Rande der Gesellschaft“. Aber schrieb und sprach er Verse, schlug er seinen Kreis um eine eigene Mitte. Ihn „im Westen“ des zerschnittenen Landes mit der Geste „nun ist er unser“ gegen „den Osten“ anklagend oder auftrumpfend instrumentieren zu wollen, wäre dem Unbehausten, dem das Alter zum Exil geriet, peinlich zu nahe getreten. Als Monica Huchel bald nach seinem Tode der Benennung des Peter-Huchel-Preises zustimmte, mag dies den Agenten des Mauerbaus und der Entmündigung scharf in Ohr und Nase gefahren sein; aber seinen Namen als politisches Plakat im Ost-West-Konflikt in Dienst zu nehmen, lag den Preisstiftern und Juroren fern. Handfesteres in Sachen Poesie lag näher und am Herzen: In Huchels Namen der Marginalisierung, Versimpelung und Verjuxung der Lyrik alljährlich eine im Durchspielen und Bearbeiten von Welt- und Sprachstoff beispielhafte, nonkonformistisch eigene Stimme entgegenzuhalten. Sie zu ermutigen, etwas für ihr Honorarkonto zu tun. Poesiedienliche Arbeit zu leisten z.B. gegen den Schwund der Lyrik-Titel und –Auflagen; gegen die Verarmung der Lyrikkompetenz in der Literaturkritik. Mit welchem Lesevermögen, Finderglück, Entscheidungswitz die Juroren in 20 Jahren zu Werke gingen, mag der Leser widersprechend, zustimmend nachvollziehen.
Hört und liest man sich hinein in die dichterischen Idiome dieses durch die Chronologie von zwei Jahrzehnten komponierten Ensembles, wird man Stimmenvielfalt, Pluralität der Sprech- und Schreibweisen erkennen können. Offenkundig hat die Jury in ihrer wechselnden Besetzung einen werkorientierten, offenen Lyrikdiskurs geführt; hat sich nicht als Bauverein zur Errichtung eines Kanons, zur Aufsockelung bevorzugter Stilrichtungen oder gar zur Bebauung des Architekturparks einer post- oder antimodernen Nationalliteratur verstanden.
So liegen die Werkplätze der 20 Preisträgerinnen und Preisträger oftmals kaum mehr in Rufweite voneinander entfernt, und doch lassen sich Korrespondenzen, Funkverkehr und Materialaustausch zwischen ihnen auffangen. Man mag die Unübersichtlichkeit dieser Landschaft der poetischen Herstellungsweisen registrieren, mag feststellen, dass die Lyrik nur noch weitab von den zentralen Plätzen der kulturellen Öffentlichkeit als „Subsubsystem des Subsystems Literatur“ (Sibylle Cramer) verortet werden könne, eine „grandiose Beiläufigkeit“ (Kurt Drawert) einer bald schon postliteraren Gesellschaft – arbeitet ein Poet an seinem Text, liest ein Leser Lyrik, haben beide ihren Anteil am Fortbestehen einer robusten, mutationsprächtigen Gattung. Allemal kommen die humane Würde und die zivilisationsresistenten Wunder der Poesie von weiterher, als sich die Schulweisheit der Marktschreier auf dem globalen Dorfplatz träumen läßt.
Ein stimmig verliehener Preis entdeckt und bewirkt auf diesem weiten Feld keine Wunder, konnte und kann aber als Sinnesorgang zur Wahrnehmung und Verstärkung von Stimmen überlebensnützlich sein. Wie sagte doch eine vermeintliche Berühmtheit auf die Nachricht, dass sie den Peter-Huchel-Preis bekomme, erfreut und sachlich ins Telefon: „Davon kann ich jetzt ein ganzes Jahr lang leben.“
Leben müssen für Gedichte, leben können von Gedichten? Dazu eine Leseempfehlung: Man wird in den Biographien dieses Gruppenbilds mit Huchel entdecken, dass drei Viertel der Lebensläufe durch heißen und kalten Krieg, politische Umstürze, Grenzüberschreitungen geprägt, dass auch die übrigen, jüngeren, von den Nachbeben und vom Stimmengewirr der Historie umgetrieben sind. Der Lebenshintergrund der in diesem Buch vereinigten Stimmen ist also nicht die Abgeschiedenheit im Fluchtquartier, sondern erschütterte Zeitgenossenschaft, von Verwerfungen durchzogenes, zur Zukunft hin hellhörig offenes Gelände.
Sölden, am 28.2.2003
Wolfgang Heidenreich