Penelope Mortimer weiß genau, wie es zugeht in den großzügigen Landhäusern im England der 1950er Jahre. Mit knapp vierzig Jahren ist sie Mutter von sechs Kindern und mit dem Autor und Rechtsanwalt John Mortimer verheiratet. Eine wohlsituierte Familie.
Daher schrieb Mortimer mit Vorliebe über das Milieu der englischen upper class. Jetzt auf Deutsch erschienen ist ihr Roman „Bevor der letzte Zug fährt“. Darin schaut man – mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken – der 37-jährigen Ruth dabei zu, wie sie langsam in eine Depression abgleitet.
Denn Ruth hat alles und doch nichts. Ihr Zahnarztgatte Rex, der die Arbeitswoche in London verbringt, bemerkt das Gefühl der Sinnlosigkeit nicht, das seine finanziell gut ausgestattete, aber einsame Ehefrau zunehmend verzweifeln lässt. Durch eine frühe Schwangerschaft von ihren Eltern in eine lieblose Ehe gedrängt, kann Ruth sich inzwischen auch nicht mehr mit ihren drei Kindern trösten. Ihre 18-jährige Tochter Angela studiert in Oxford und die beiden jüngeren Söhne sind im Internat.
Ruth ist alleine, gefangen in starren Haushaltsroutinen und in der Ehe mit Rex, der nicht nur finanziell Macht und Kontrolle über Frau und Kinder ausübt. Als Ruth erfährt, dass ihre Tochter ungewollt schwanger ist, will sie eine Wiederholung ihres eigenen Schicksals verhindern. Der Fötus soll abgetrieben werden.
Der Roman „Bevor der letzte Zug fährt“ erschien 1958 und damit zehn Jahre, bevor Abtreibungen in England legalisiert wurden. Der entwürdigende Hindernislauf, den Mutter und Tochter absolvieren müssen, um eine teure, illegale Beendigung der Schwangerschaft zu organisieren, spiegelt sich in knappen, abgehackten Dialogfetzen.
Zögernde Halbsätze zeigen die angespannte Beziehung zwischen Ruth und ihrer Teenager-Tochter Angela, die nicht in die Falle tappen will, in der ihre Mutter seit Jahren festsitzt. Gleichzeitig spürt Angela: Sie ist die zur Unzeit geborene Tochter, die nie so geliebt wurde wie ihre jüngeren Brüder.
Mit ihrem Roman hat Penelope Mortimer ein frühes feministisches Manifest für die Legalisierung von Abtreibungen geschrieben, bevor die Frauenbewegung der 1960er Jahre sich hierfür einsetzte. Aber dieser Roman handelt in alltagsnahen Dialogen sehr viel mehr ab. Rücksichtslos räumt die Autorin auf mit den trügerischen Ehe- und Familienbildern, die sie selbst einst mit Homestorys in Zeitschriften beförderte.
Hinter den Landhaus-Mauern mit ihren gepflegten Rasenflächen finden nicht nur im Roman erbitterte Gefechte statt. Ihre Ehe, das ist für die Zahnarztgattin Ruth
„ein langer Krieg, in dem ein Angriff, so er nicht erfolgte, stets drohte“.
Um diese Angriffe zu parieren oder ihnen auszuweichen, hatte Ruth, wie sie selbst fand,
„eine meisterhafte Geschicklichkeit erworben“.
Jede Kommunikation in ihrem Umfeld erfordert hohe Wachsamkeit. Der Smalltalk mit den Nachbarinnen ist ein Balanceakt für den Erhalt der Fassade:
„unter der Oberfläche, viele Faden tief getaucht in Müßiggang, verbirgt jede ihre eigene, vereinsamte Persönlichkeit“,
stellt die allwissende Erzählerin über die Ehefrauen fest, deren Freundschaften sich schnell in Bosheit verwandeln.
Der Roman „Bevor der letzte Zug fährt“ beeindruckt nicht nur mit bissigen Dialogen und bildkräftigen Milieuschilderungen, sondern auch mit herrlichem Sinn für Situationskomik. "Wasdas?", fragt ein fremdes Kleinkind im Café und zeigt auf Angelas Freund, der mit Angela und ihrer Mutter die Finanzierung der Abtreibung bespricht. „Geh weg“, sagt die schwangere Angela, während alle selig im vorweihnachtlichen Kaufrausch schwelgen. Ständige Shoppingtouren kompensieren Sinnleere und Beziehungslosigkeit zumindest für kurze Zeit.
Penelope Mortimers schonungslose Beschreibung von weiblicher Beschränkung in der britischen oberen Mittelklasse überraschte die Kritik in den 1950er Jahren. Erstaunlich war für viele das Ausmaß an weiblicher Wut, das in diesem Roman immer wieder spürbar ist.
Mortimer ist eine blendende Stilistin und schreibt hoch unterhaltsam über Alltagsthemen, die unser Leben bis heute bestimmen. Eine unbedingte Leseempfehlung, verbunden mit der Hoffnung, dass der Dörlemann Verlag uns noch weitere literarische Wiederentdeckungen dieser Autorin beschert.
Aus dem Englischen von Kristine Kress
Dörlemann Verlag, 304 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-03820-120-5