Geschichten vom Holocaust handeln meist vom Überleben. Aber was bleibt von den Millionen, die dem Vernichtungszug der Nazis zum Opfer gefallen sind? In ihrem Buch über ihre unbekannte Großmutter zitiert Nina F. Grünfeld einen Historiker, der eine traurige Wahrheit ausspricht: Viele Menschen verschwinden aus der Geschichte, ohne auch nur ein Staubkorn zu hinterlassen. Das gilt umso mehr, wenn sie den Rändern der Gesellschaft entstammen.
Wie Frederika Grünfeld, genannt Frida, die 1909 in einer jüdischen Familie in einem Dorf im ungarischen Teil der Donaumonarchie zur Welt kam. Und die seit 1930 ihren Lebensunterhalt damit verdiente, in Städten wie Prag oder Bratislava ihren Körper zu verkaufen.
Womit schon einige der spärlichen Fakten genannt wären, die Nina F. Grünfeld über ihre Großmutter überhaupt in Erfahrung bringen konnte. Das Buch der norwegischen Autorin ist der ebenso ergreifende wie spannende Bericht einer jahrzehntelangen Suche. Schon in ihrer Kindheit habe die rätselhafte jüdische Vorfahrin sie in ihrer Fantasie besucht, gesteht die Dokumentarfilmerin und Medienforscherin.
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg
Schöffling Verlag, 336 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-89561-253-4
Eine Rolle dürfte dabei das verschämte Schweigen ihres Vaters gespielt haben: Fridas Sohn Berthold war 1939 als Siebenjähriger von seinen katholischen Pflegeeltern in Bratislava vor den Nazis ins ferne Norwegen geschickt worden. Über seine leibliche Mutter wusste er später nur, dass sie angeblich nicht sehr – Zitat – „respektabel“ gewesen wäre. Und dass er selbst daher vermutlich „aus der Gosse“ stammte. Dass aus ihm später ein Sozialmediziner und Rechtspsychiater wurde, hing auch mit seiner unsicheren Herkunft zusammen, glaubt seine Tochter.
Was bleibt also von einem Menschen? Wenn schon kein Foto oder Grabstein, so zumindest Dokumente. Im Fall von Frida Grünfeld sind das vor allem Polizeiakten wie etwa Verhörprotokolle, teils sogar mit ihren Fingerabdrücken, die sich in den Archiven erhalten haben. In ihnen spiegelt sich ein unstetes und tragisches, aber in mancher Hinsicht wohl typisches Leben jener Zeit, als man allzu leicht zum Spielball der Geschichte werden konnte: mit immer neuen Umzügen, Vorladungen wegen öffentlicher Trunkenheit oder angeblicher Kontakte zu slowakischen Separatisten oder der Flucht vor Geldforderungen, von Vermietern ebenso wie von Bertholds Pflegeeltern.
Hinzu kam, dass Frida als ungarisch-jüdische Prostituierte für die neue Tschechoslowakei zu einem unerwünschten ausländischen „Element“ wurde. Mehrmals wurde sie ausgewiesen: erst in die Slowakei, dann nach Ungarn, wo sie 1944 von den Nazis deportiert wurde, nach Auschwitz. Das sollte aber noch nicht das Ende von Fridas Geschichte sein: Ihre Großmutter überlebte das Vernichtungslager, doch nur, um als Zwangsarbeiterin nach Deutschland geschickt zu werden, wo sie mit anderen jüdischen Frauen in der Nähe von Frankfurt am Main eine Rollbahn für deutsche Jagdflugzeuge bauen musste. Gestorben ist sie erst am 6. April 1945, also etwa einen Monat vor Kriegsende, in der Gaskammer von Ravensbrück.
Dass weiß man deshalb so genau, weil die Autorin den Namen ihrer Großmutter auf einer der wenigen erhalten gebliebenen NS-Listen aus diesem Frauen-Lager gefunden hat, auf denen die SS jene Häftlinge aufführte, die für diesen Tag zur Ermordung bestimmt waren.
Klug wechseln sich in Nina F. Grünfelds Buch die Ebenen einander ab: die behutsame, tastende Nacherzählung von Fridas Leben und die Geschichte der jahrzehntelangen Suche nach ihr, die noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs begann und im Zeitalter von DNA-Analysen und Digitalisierung ihr vorläufiges Ende fand. Dabei gelingt es der Autorin überzeugend, die zahlreichen Leerstellen in Fridas Leben durch Empathie und Konzentration auf den historischen Kontext zu füllen.
Zum Vorschein kommen dabei die Umrisse eines Menschen, der überraschenderweise nicht nur ein Spielball der Geschichte war. Einige Dokumente lassen erahnen, mit wie viel Chuzpe sich einst diese ganz auf sich selbst gestellte, gleich mehrfach diskriminierte Frau gegen die jeweiligen Autoritäten zu behaupten wusste. Das sollte auch ihrem Sohn, dem im Jahr 2007 verstorbenen Sozialmediziner Berthold Grünfeld, am Ende noch eine späte Bewunderung abnötigen.