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Nils C. Kumkar – Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung

Stand
Autor/in
Gerhard Klas

Alternative Fakten sind ein schillernder Begriff mit wenig Trennschärfe, der seit mehr als fünf Jahren durch Debatten und Talkshows geistert. Warum es müßig ist, ihre Boten mit wissenschaftlichen Fakten zu konfrontieren, erklärt der Bremer Sozialwissenschaftler Nils C. Kumkar. Denn es geht vor allem darum, notwendige politische Entscheidungsprozesse zu torpedieren.

Alternative Fakten und fake news: Wer schon einmal versucht hat, mit einem Klimaleugner oder Querdenker zu diskutieren, wird häufig die Erfahrung gemacht haben, dass die Verfechter alternativer Fakten trotz wissenschaftlicher Evidenz nur wenig Bereitschaft zeigen, von ihren absurden Standpunkten abzurücken.

Normalerweise entsteht unser Wissen durch wissenschaftliche Expertise und deren Institutionalisierung. Der Soziologe Nils Kumkar verdeutlicht solche anspruchsvollen Abstraktionen in seinem Buch immer wieder mit konkreten Alltagsbeispielen: Mit Hautausschlag geht man eben zum Hausarzt und nicht zur Architektin.

Alternative Fakten sind keine Produkte wissenschaftlicher Erkenntnis. Deshalb ist es für Kumkar auch müßig, sie argumentativ zu widerlegen. Viel interessanter ist für den Soziologen die Funktionsweise Alternativer Fakten.

Hier geht Kumkar ins Detail und arbeitet verschiedene Mechanismen der Produktion falscher Fakten heraus: Datengrundlagen wissenschaftlicher Studien werden ohne konkrete Anhaltspunkte in Frage gestellt.

Natürlich gibt es auch gerechtfertigte Kontroversen, wie der Streit verschiedener Wissenschaftler während der Pandemie deutlich machte. Hier definiert Kumkar ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen wissenschaftlicher Gegenexpertise und Alternativen Fakten: mit letzteren soll keine alternative Entscheidungsgrundlage eröffnet werden, sondern eine bestehende Grundlage schlicht geleugnet und delegitimiert werden.

Anders als ihre Bezeichnung nahelegt, zielen „Alternative“ Fakten also nicht auf ein „alternatives“ Handeln ab, sondern sollen vor allem ihr destruktives Potential entfalten. Ihre Adressaten sind nicht Politik und Wissenschaft, sondern Wahlvolk und Konsumenten.

Vor allem Soziale Medien beschreibt Kumkar als Brandbeschleuniger. Denn nicht Informationsweitergabe und Reflektion, sondern Moral und Selbstwertgefühl seien die harten Währungen der Sozialen Medien. Unter anderem hat Kumkar dafür Facebook-Seiten der AfD analysiert, die sich wie kaum eine andere Partei offen gegenüber Alternativen Fakten zeigt.

Bei der Lektüre des Buches entsteht der Eindruck, klassische Medien seien zwar nicht immun, aber weniger anfällig für Verschwörungstheorien und Alternative Fakten. Diese These ist sicher haltbar in Ländern wie den USA, Deutschland und Österreich, deren fake-news-Produktion Kumkar untersucht hat. In Putins Russland und anderen Diktaturen jedoch sind genau die klassischen Leitmedien die Produktionsstätten von fake news – und viele Soziale Medien ein wichtiges Korrektiv.

Alternative Fakten und Fake News sind zwar neue Begriffe, aber als Phänomene existieren sie viel länger. Sie sind seit jeher Grundlage rassistischer und antisemitischer Verschwörungstheorien. Dass sie heute wieder Wirkungsmacht entfalten, wie etwa bei der Wahl Donald Trumps und rechtspopulistischer Parteien in Europa, mag erschrecken. Nils Kumkar will dennoch nicht von einem „Boom“ der Alternativen Fakten sprechen. Auch wenn sie weit verbreitet sind: Geglaubt werden sie deswegen noch lange nicht.

Mit Verweis auf Theodor W. Adorno und seine Kritische Theorie erklärt Kumkar die Wirkweise Alternativer Fakten: Wer sich damals der Nazi-Propaganda angeschlossen hatte, tat dies in der Regel nicht aus Einsicht in ihren Wahrheitsgehalt, sondern aus Angst oder einem Nützlichkeitskalkül. In der Regel geht es ganz einfach nur um Konfliktverschiebung, um die Verdrängung und Verneinung des Unausweichlichen.

Auch wenn Kumkar die Interessengruppen hinter den Alternativen Fakten nur andeutet: In seinem Buch hat Nils Kumkar eine Schablone erarbeitet, mit der sich viele aktuelle Absurditäten auch in der etablierten Politik erklären lassen – Stichwort Tempolimit. Eine Lektüre mit erheblichem Gebrauchswert.

Edition Suhrkamp, 336 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-518-12811-4

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