Ein Sommer in Baltimore: Cassandra, genannt Cee, und ihr Bruder Wayne gehen wie so oft gemeinsam zum Schwimmen an den Strand. Sie ist zwölf, er sieben Jahre alt. Doch an diesem Tag kehrt nur Cee nach Hause zurück. Ein Sturm kam auf, so erklärt das Mädchen den verstörten Eltern sowie der Polizei. Sie hat versucht, den Bruder zu retten und ihn auf den Strand gezogen, wo sie ohnmächtig wird. Als sie aufwachte, lag Wayne nicht mehr neben ihr.
Traumatischer Verlust des Bruders
Jahre sind seither vergangen. Cee, die Hauptfigur und Ich-Erzählerin in Namwali Serpells Roman „Die Furchen“, ist inzwischen eine erwachsene Frau. Das Trauma dieses Verlusts – und die Tatsache, dass der Bruder nie gefunden worden ist – hat sie ihr Leben lang begleitet. Noch immer – und damit beginnt dieser geheimnisvolle Roman – erzählt sie, was passiert ist an jenem Tag.
Sie erzählt es sich selbst. Sie erzählt es den vielen Therapeuten, zu denen die Eltern sie seit Waynes Tod schicken. Sie erzählt es Wayne – den sie weiterhin körperlich spüren kann, bis in ihre Träume hinein. Doch je länger wir Cee auf ihrem Weg begleiten, umso weniger können wir sicher sein, ob das, was sie erzählt, wahr ist oder eher ein Gefühl. Denn die Todesarten in ihren Erinnerungen ändern sich von Mal zu Mal. Was bleibt, ist Cees scharfes Empfinden von Verlust. Und eine wachsende Klarheit, was dieser Verlust mit ihr und ihrer Familie gemacht hat.
Die Ehe der Eltern zerbricht am Schicksal des Sohnes
Die Ehe der Eltern ist daran zerbrochen. Cees Mutter – eine erfolglose weiße Künstlerin – hält eisern daran fest, dass ihr Sohn nicht tot, sondern nur verschwunden ist. Der Glaube daran wird zu einer Obsession. Sie gründet eine medial wirksame Organisation für vermisste Kinder, für die am Ende auch Cee arbeiten soll. Cees Vater – er ist schwarz – kapituliert: Er zieht sich erst in sich selbst zurück, dann verlässt er die Familie und gründet eine neue. Beide Eltern wiederum haben Cees Erzählung von Anfang an nicht wirklich getraut.
Wie nebenbei wirft Serpell somit auch ein Schlaglicht auf Rassen- und Geschlechterfragen, die das private Leben ihrer Figuren ebenso determinieren wie der persönliche Verlust. Und man begreift, dass Cee nicht nur Verlust erlitten hat, sondern auch sich selbst verloren gegangen ist.
Den Bruder sucht und findet sie seitdem in jedem Schwarzen Mann, dem sie zufällig begegnet, sei es in der Mall, sei es in der U-Bahn. Jede Begegnung ähnelt einer inneren Explosion. Das gilt allemal, als sie im zweiten Teil des Buches einem Mann – auch er ein Schwarzer – verfällt, der Wayne nicht nur verblüffend ähnlich sieht, sondern sich so auch nennt.
Erst spät stellt sich heraus, dass auch er, der nun nach und nach zum Erzähler wird, auf der Suche ist nach einem Wayne. Einst ist er wegen ihm als junger Mann zu Unrecht auf der Straße gelandet. Und sich so ebenfalls auf schreckliche Weise verloren gegangen. Da sind wir längst in der Falle einer Autorin, die unserer Wahrnehmung so bewusst wie gekonnt den vermeintlich sicheren Boden unter den Füßen entzieht.
Verlust ist Gehen auf schwankendem Grund
Verlust, so lehrt uns der Roman, ist Gehen auf schwankendem Grund. Serpell – die das Erzählen in Rätseln und Rhizomen liebt – erklärt das aber nicht, sondern macht das spürbar: in kristallscharfen Bildern, mittels unerwarteter Wendungen der Handlung; aber auch und vor allem in der so spröden wie schroffen Art, in der die beiden Teile des Romans ineinander haken.
Denn „Die Furchen“ ist nicht nur eine Erkundung von Verlust und Trauma aus dem Inneren heraus. Der Roman – darauf verweist sein Titel – ist ebenso sehr eine Meditation über das Thema der Zeit. Wo ist jemand, der nicht mehr da ist und doch weiter präsent? In welchem Kontinuum, in welcher Furche landet die Person, die Verlust erleidet?
Welche Mächte steuern die Flugbahnen, auf denen Menschen wie Cee und der ominöse Wayne so unerklärlich wie zielstrebig aufeinandertreffen? Und wie kann davon erzählt werden, da Sprache einer gewissen Linearität nicht entkommt? Wer den Roman „Die Furchen“ – brillant übersetzt von der Autorin Asal Dardan – liest, sollte sich deshalb warm anziehen. Es weht ein herber Wind in diesem durch und durch unerbittlichen Roman.