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Monika Helfer - Die Bagage

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Klug und sensibel erkundet Monika Helfer in „Die Bagage“ familiäre Lebenswege, vor allem das Schicksal einer Landfrau in Zeiten des Ersten Weltkriegs.

Es geht um Lügen und Legenden, die über Generationen hinweg auch die eigene Familiengeschichte prägen.

Helfers Figuren kommen dem Leser sehr nahe, so dass man am Ende denkt: Die Bagage, das sind wir alle.

Kinderperspektiven sind Helfers Interessensschwerpunkt

Die 1947 in Au im Bregenzerwald geborene Schriftstellerin Monika Helfer hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht.

In ihren Büchern werden oft schwierige Familienbeziehungen erzählt, wobei sie sich vor allem für die Kinderperspektiven interessiert.

Autorin Monika Helfer
Die Schriftstellerin Monika Helfer

Ein autobiografisches Element spielt im neuen Roman eine tragende Rolle

Die Kinder in Helfers Texten berichten vom kindlichen Mut, Überlebenswillen und Trotz, sich auch von den Vorgaben der Gesellschaft nicht beirren zu lassen.

Seit 1981 ist Monika Helfer mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier verheiratet. Sie haben vier Kinder, wobei die Tochter Paula bei einem Unfall 2003 ums Leben kam.

Auch diese traurige Geschichte wird eingeflochten im neuen Roman von Helfer, der den Titel „Die Bagage“ trägt. Im Zentrum des autofiktionalen Romans steht allerdings die Geschichte ihrer Großeltern.

Der Schein der ländlichen Idylle trügt

Die Einstiegsszene könnte für eine ländliche Idylle gehalten werden. Eine Frau hängt Wäsche auf, ihre schönen weißen Blusen, eine Strampelhose und die Sachen des Mannes, der zunächst im Hintergrund bleibt, denn er versorgt wohl das Vieh.

Das kleine Haus liegt in augenfälliger Distanz zu einem Vorarlberger Bergdorf, als wollten die Bewohner nichts zu tun haben mit den Nachbarn. Hier lebt eine Familie, die ein zwar abgeschiedenes, aber glückliches Leben zu führen scheint. Aber der Schein trügt.

Die Wirklichkeit weht hinein in das Bild, kalt und ohne Erbarmen, sogar die Seife wird knapp. Die Familie ist arm, gerade zwei Kühe, eine Ziege. Fünf Kinder.

Schon früh im Text und mit wenigen Formulierungen ordnet Monika Helfer die Erzählverhältnisse in diesem so sensibel komponierten Roman, der sich auf die Suche nach der Wahrheit in der eigenen Familiengeschichte macht. Ein Kind der Landleute ist die Mutter der Autorin.

Margarete, eine Scheue, die jedes Mal, wenn sie auf ihren Vater traf, sich duckte und nach dem Rock der Mutter schaute.

Die Dorfbewohner nennen Familie Moosbrugger abschätzig „Bagage“

Die Kleine hat guten Grund, ängstlich gegenüber dem Vater zu sein, denn er „verabscheute sie, er ekelte sich vor ihr“, weil er annahm, „dass sie nicht sein Kind sei“.

Das Drama dieser Familie hat verschiedene Ursachen. Es beginnt schon damit, dass sie sich absondert und anders lebt, ohne elektrischen Strom zum Beispiel.

Im Dorf werden die Moosbruggers abschätzig die Bagage genannt. Maria und Josef – ja, so heißen die Eheleute wirklich - kämpfen mit vielen Vorurteilen.

Weil sie schöner ist als die neidische Konkurrenz in der kleinen Gemeinde und weil er krumme Geschäfte mit dem Bürgermeister macht.

Die Eigenbrötler haben es schwer

In der Kirche müssen oder wollen die Moosbruggers in der letzten Reihe knien, ja, vielleicht sind sie sogar froh über die Ressentiments, die ihnen entgegengebracht werden.

Doch die Zeiten sind schlecht für derlei Eigenbrötelei, denn in Sarajevo wird der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet, und schon bald bricht der Erste Weltkrieg aus und wer nicht zur bedrohten Gemeinschaft gehört, ist ein Feind.

Als der Krieg beginnt, wird der Bürgermeister zum neuen Mann im Haus

Josef wird eingezogen, seine Frau ist mit den Kindern auf sich allein gestellt. Bürgermeister Gottlieb Fink verspricht dem Freund zwar, auf dessen Gattin aufzupassen, aber statt sie zu schützen, bedrängt er die attraktive Frau.

Wenn der Bürgermeister Maria besuchte, setzte er sich in die Küche ihr gegenüber (…). Er sah sich im Vorteil, er schaute Maria an wie nie zuvor, er strich ihr über den Hals, was er zuvor in dieser Art nie getan hatte, er griff ihr ins Haar, wickelte das Haar um seine Hand und zog sie an sich, das war alles neu. Maria ließ sich das alles gefallen.

Die Bürgerschaft lebt weit entfernt von Anstand

Die Bagage wird verspottet, ein halbwildes Leben zu führen, aber gerade die lokale Instanz der bürgerlichen Ordnung bricht alle Regeln des Anstands und möchte sich den Lustgewinn notfalls mit Gewalt verschaffen.

So unübersichtlich die politische Großwetterlage, so rücksichtslos sind die Menschen auch in den Randgebieten des Krieges.

Hat sich Maria denn nicht auch einem schönen Deutschen hingegeben, fragt sich der Bürgermeister, um seinen Übergriff vor sich selbst zu rechtfertigen.

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Ein vermeintlich gehörnter Ehemann hegt Zweifel

Warum darf er, der die Bagage durchfüttert, nicht auch mal verwöhnt werden? Maria Moosbrugger hatte sich tatsächlich in den feschen Reisenden aus Hannover verliebt.

Aber bis auf einen geheimnisvollen Kuss und ein berauschendes Gefühl geschah nichts. Der Gatte kam zu Besuch von der Front, die Eheleute schliefen miteinander, die Frau wurde schwanger und Grete wurde geboren.

Als der Krieg vorbei war und Josef endgültig heimkam, hörte er von den Gerüchten und bekam das Gefühl, betrogen worden zu sein, nicht mehr aus einem Kopf.

Als der Bürgermeister gefragt wird, lügt er

Er stellte den Bürgermeister zur Rede, aber statt bei der Wahrheit zu bleiben, konfrontiert Gottlieb Fink ihn mit einer nahezu teuflischen Geschichte.

Ich habe deine Frau verteidigt, gegen Böswilligkeiten habe ich sie verteidigt und gegen den Hunger auch, das bitte ich dich nicht zu vergessen. Aber gegen den Mann in mir konnte ich sie nicht verteidigen.

Monika Helfer schreibt in „Die Bagage“ sehr anschaulich von Lügen und Legenden, die über Generationen hinweg die Familiengeschichte prägen.

Helfer weiß das Drama anschaulich zu schildern

Sie schreibt von der Liebe, die viele Facetten kennt, und sie verbindet das Leben ihrer Vorfahren mit eigenen Schicksalsschlägen, ohne einen neuen Familienmythos zu begründen.

Das ist ohnehin der große Gewinn der autofiktionalen Literatur, wie Helfer sie betreibt: Die Erzählerin ist nicht auftrumpfend, sie reflektiert und misstraut der eigenen Perspektive, möchte nicht um jeden Preis eine Ordnung in die Erinnerung bringen, weiß aber das vergangene Drama sehr anschaulich und dramaturgisch geschickt zu schildern.

Mit klarer und schnörkelloser Sprache erzählt Monika Helfer die Geschichte

Ihre literarische Kunst besteht dabei auch und vor allem in der sprachlichen Einfühlung, so dass die Figuren, die das Leben der Autorin geprägt haben, eine allgemeingültige Relevanz erhalten.

Monika Helfer ringt um biographische Wahrhaftigkeit, weil sie darin Wege in eine Welt aufzeigen kann, in der die tradierten Gewaltverhältnisse vielleicht verschwinden.

Helfers Sprache ist so klar und schnörkellos schön, dass sie es mühelos schafft, dem naheliegenden Pathos zu entkommen.

Im Grunde sind wir alle die Bagage

Wenn sie an den Unfalltod der eigenen Tochter erinnert, weht ein sanfter Hauch von Melancholie durch die Zeilen, und der verbindet die eine mit der anderen Muttergeschichte.

Wie unberechenbar und bedrückend nämlich die Lebenswege von Grete und ihren Geschwistern verlaufen, wie die Beschädigungen der Kindheit weitergetragen werden, manchmal nur als schwaches Echo aus einer fernen Zeit, das weiß diese persönliche, den Rahmen des Autobiographischen gleichwohl überschreitende Prosa überzeugend darzustellen.

So lässt sich auch eine politische Botschaft zwischen den Zeilen vernehmen: Ob damals oder heute, im Grunde sind wir alle die Bagage. Mal mehr und mal weniger.

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Carsten Otte